3. Mose 19.1-3-13-18.33-34
Der Herr redete mit Mose und sprach:
Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott. Ihr sollt euch nicht zu den Götzen wenden und sollt euch keine gegossenen Götter machen; ich bin der Herr, euer Gott.
Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der Herr, euer Gott.
Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen
Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der Herr.
Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.
Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der Herr.
Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.
Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.
Liebe Gemeinde!
„Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche.“ Auch heute haben wir das wieder im Glaubensbekenntnis gesprochen wie jeden Sonntag.
„Ich glaube an die heilige christliche Kirche.“ – Sind wir davon wirklich überzeugt? Wenn mir Leute sagen, dass sie Probleme mit dem Glaubensbekenntnis haben, ja, dass sie manche Sätze eigentlich gar nicht ehrlich mitsprechen könnten, dann ist das meistens dieser Satz, nicht unbedingt das „geboren von der Jungfrau Maria“ oder das „hinabgestiegen in das Reich des Todes“.
Kann man denn ernsthaft sagen, dass die Kirche heilig sei? Nach all den Verfehlungen und Skandalen, die sie in der Geschichte bis heute begangen hat und begeht? Kreuzzüge und Zwangsbekehrungen, Machtmissbrauch und Heuchelei?
Und nicht nur diese Verfehlungen der großen Institution, sondern auch Gemeinde, wie wir sie im Kleinen erleben! Ist unsere Kirchengemeinde „heilig“, oder erleben wir in unserem Umgang miteinander nicht auch immer wieder Enttäuschungen, Bosheit, Gerede über andere? Ist nicht Vieles, was wir tun, auch nur Stückwerk, oberflächlich und wenig dauerhaft, schnell vergessen im der flüchtigen Eitelkeit einer pulsierenden Hauptstadt?
„Ich kann an Gott glauben,“, sagte mir mal eine Frau, aber ich kann – nach allem, was ich erlebt habe und weiß – nicht an eine „heilige Kirche“ glauben!“
Diese Haltung hat einiges für sich und ist nicht von der Hand zu weisen.
Aber bevor wir den Satz von der „heiligen christlichen Kirche“ aus dem Glaubensbekenntnis streichen, müssen wir uns klarmachen, was „heilig“ eigentlich bedeutet!
Wir müssen uns klarmachen, wie „Heiligkeit“ zustande kommt, und dann können wir vielleicht am Ende ganz neu begreifen, was unsere Kirche und Gemeinde auszeichnen soll und besonders macht.
„Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.“: Unser Wort aus dem Alten Testament gibt uns gleich am Anfang eine Antwort auf die Frage nach der Heiligkeit.
„Ihr sollt heilig sein, weil ich, euer Gott heilig bin.“
Haben Sie die Brisanz dieses Satzes begriffen?
Es heißt nicht: Ihr sollt heilig sein, weil ihr tadellos lebt. Gott sagt nicht: Ich will euch „heilig“ nennen, wenn ihr ein perfektes Gemeindeleben und ein makelloses Leben als Einzelpersonen habt.
Ich sage es mal etwas zugespitzt: Heiligkeit ist kein Orden, den Gott uns ansteckt, wenn wir am Ende des Lebens eine weiße Weste vorzuweisen haben. Heiligkeit ist keine Auszeichnung für eine bestimmte Menge von guten Taten!
Heiligkeit wird nicht als Titel verliehen für ausgezeichnete Lebensführung – im Nachhinein!
Nein, Heiligkeit wird hier von Vornherein angeordnet.
„Ihr sollt heilig sein, weil ich, euer Gott heilig bin.“
Und sie wird nicht mit tadellosem Verhalten begründet, sondern mit Gottes eigener Heiligkeit! „Ihr sollt heilig sein, weil ich, euer Gott heilig bin.“
„Heilig“, liebe Gemeinde, das ist kein moralischer Begriff, „heilig“, das ist für das Alte Testament ein kultischer Begriff, eine Sache, die mit Gottesbegegnung und Gottesbeziehung zu tun hat.
Heiligkeit – das ist Kontakt-Geschehen. Man könnte von „Kontakt-Heiligkeit“ sprechen, nicht von moralischer Heiligkeit.
Das Volk Gottes ist heilig, weil es mit Gott in Kontakt steht. Ich verwende jetzt einen Begriff, den wir aus dem medizinischen Bereich eher negativ besetzt kennen:
Wir sind kontaminiert von Gottes Heiligkeit. Gottes ausstrahlendes und veränderndes Wesen hat uns angesteckt. Gläubige Menschen sind nicht moralisch besser, sondern gläubigen Menschen spürt man etwas davon ab, dass sie mit diesem Gott der Liebe zu tun haben. Wer ständig in Kontakt mit diesem Gott, mit seinem Wesen und seinen Worten ist, auf den wird das früher oder später abfärben.
„Ihr sollt heilig sein, weil ich, euer Gott heilig bin.“
Gottes Heiligkeit, sein Wesen, seine Art sind die Basis und die Grundlage und der Ausgangspunkt unserer Heiligkeit. Gottes Wesen färbt auf uns ab. So könnte man es mit anderen Worten sagen.
„Ihr sollt heilig sein, weil ich, euer Gott heilig bin.“
Jetzt besteht unser Bibelwort aber nicht nur aus diesem einen – wenn auch zentralen – Vers.
Da sind ja noch die vielen konkreten Anweisungen, die folgen:
Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage! Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Du sollst den Fremdling nicht bedrücken.
Sie erkennen da alle – und haben das vielleicht schon beim ersten Hören getan – die 10 Gebote wieder.
Und das ist richtig. Schon einige Seiten früher in der Bibel stehen die 10 Gebote im Original, wie sie an Mose übergeben wurden, und unsere Zeilen lesen sich – so sagen auch die Bibelwissenschaftler – wie ein Kommentar, wie eine Vertiefung dieser Gebote.
Es geht hier nicht darum, dass weitere Gebote auf eine ständig anwachsende lange Liste geschrieben werden, sondern es geht darum, dass wir diese grundsätzlichen Prinzipien immer tiefer verstehen und immer beherzigen.
Auch hier ist mir das Wort wichtig (und ich glaube, ich habe das Buch Deuteronomium hinter mir): Gebote sollen nicht ausgeführt werden, sondern Gottes Gebote sollen beherzigt werden. Sie verstehen den Unterschied. Regeln können technisch ausgeführt und kalt abgearbeitet werden. Gottes Gebote können nur mit dem Herzen umgesetzt werden, wenn man sie erfüllen will. Eine rein technische oder berechnende Erfüllung der Gebote schließt sich von selbst aus.
Gott liebt und er will, dass wir lieben. Das ist so etwas wie die Essenz der Gebote. Nicht zufällig erscheint in diesem Zusammenhang der Satz:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Gott liebt euch, ist der Herr, euer Gott, hat euch aus Ägypten befreit hat. Von dieser Grunderfahrung her, von dieser erfahrenen Wertschätzung her sollen auch wir leben und andere lieben. Und „Lieben“ bedeutet nicht „verliebt Sein“, sondern bedeutet „Achten und Ehren“ wie man so schön altmodisch sagt oder „Respektieren und Ernstnehmen“ wie man heute formulieren würde.
Und dann kommt dieses Achten und Respektieren ganz unterschiedlichen Personengruppen zu: Den Eltern, dem Bruder, den Kranken und Behinderten, den Armen, den Fremdligen, und sogar dem Gegner vor Gericht.
Gott hat uns geachtet. Deshalb sollen auch wir alle anderen Geschöpfe grundsätzlich erst einmal achten.
Gottes Wesen prägt unser Wesen. Er ist heilig und wir sollen heilig sein.
Er ist anders als diese Welt mit ihrem Hauen und Stechen, mit ihrem ständigen Kampf ums Überleben und wir sollen anders sein als diese Welt mit ihren Aggressionen und Gewaltspiralen. Zumindest sollen wir es immer wieder versuchen!
Vor einiger Zeit wurde unter evangelischen Kirchenmitgliedern eine Umfrage gemacht. Dabei wurden nicht nur die regelmäßigen Gottesdienstbesucher gefragt, sondern auch die „ganz normalen“ Kirchenmitglieder, die nur ab und zu am Gemeindeleben teilnehmen.
Gefragt wurden sie nach dem, was für sie das Zentrale, das Wichtigste, das Entscheidende am christlichen Glauben sei.
Und die Antwort war: Mehr als 80% sagten: Die 10 Gebote oder: „Das Entscheidende am Christentum ist, dass man ein anständiger Mensch ist.“ Oder: „Die Nächstenliebe ist die wichtigste Idee des Christentums.“
Nichts von Jesus, seiner Geburt, seinem Kreuz. Nichts von Auferstehung und ewigem Leben. Und, liebe Lutherfreunde, nichts von Gnade und Rechtfertigung!
Nichts davon, dass die Nächstenliebe gar keine „christliche Erfindung“ ist, sondern – wie wir heute gelesen haben – schon im 3. Buch Mose erscheint, und damit gemeinsames biblisches Glaubensgut.
Wir Menschen sind heute offenbar so auf Moral und Anstand ausgerichtet, dass wir nicht nur unser eigenes Leben daran messen, sondern auch die Religion nur in diesem Licht sehen.
Welche Werte bietet sie, welche Regeln kennt sie, welche Gesellschaft bewirkt sie?
Diese Fragen sind alle wertvoll und wichtig, aber sie dürfen nie isoliert gestellt werden von der Liebe und Zuwendung Gottes oder – wie das 3. Buch Mose sagt – von seiner Heiligkeit.
„Ich, euer Gott, bin heilig, und deshalb sollt auch ihr heilig sein.“
Wenn die Kirche nur Werte und Regeln und moralische Ideale verkündet, ohne auf den Gott hinzuweisen, von dem das alles herkommt und in dessen Beziehung man diese Ideale eigentlich erst froh und ehrlich leben kann, dann bleibt sie der Welt etwas schuldig.
Wenn an Jesus nur seine Prinzipien wichtig sind, aber nicht sein Leben, seine Hingabe bis ins Letzte, sein Dasein für uns bis heute, dann wird diese Botschaft austauschbar und verliert am Ende ihre Attraktivität.
Regeln, Gebote, Ideale: Das gibt es überall, und dazu muss man kein Christ sein, ja nicht einmal an irgendetwas Höheres glauben.
Dass Regeln, Gebote und Ideale aber zusammenhängen, in einer ewigen und wunderbaren Dynamik verbunden sind, dass sie in der Heiligkeit Gottes verankert und gefasst und garantiert sind, das gibt es nur in der Bibel.
„Ich bin der Herr, dein Gott.“ – Und dann kommen erst die Gebote.
„Ich bin für dich da.“ – Deshalb kannst du auf andere zugehen und manchen Rückschlag einstecken.
„Ich achte dich.“ – Deshalb kannst du andere achten.
„Ich bin heilig – deshalb sollt auch ihr heilig sein.“
Wenn dieser Zusammenhang besteht, dann brennen wir nicht aus in unserem Einsatz für andere.
Wenn dieser Zusammenhang besteht, dann werden wir nicht müde, auch wenn wir an dieser Welt verzweifeln.
Wenn dieser Zusammenhang besteht, dann können wir aus vollem Herzen die „heilige christliche Kirche“ im Apostolicum bekennen, denn damit verleihen wir nicht uns selbst einen Orden, sondern verweisen auf den, der unsere Gemeinschaft, unser Zusammensein und unser Leben erst heilig – und damit wertvoll, gesund und ewig macht – den ewigen und einzigen Gott. Amen.