Lukas 17,11-19

Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog.

Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen:

Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.

Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.

Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?

Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?

Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

 

 

„Wo sind aber die neun?“ „Hat sich sonst keiner gefunden“?

Diese beiden Sätze, liebe Gemeinde,

sind ja nicht nur irgendein Zitat aus dem 17. Kapitel des Lukasevangeliums.

Sie sind nicht nur irgendein beliebiges Zitat aus dem Predigttext des vierzehnten Sonntags nach Trinitatis, dem eben gehörten

Evangelium dieses Sonntags – nein, diese beiden Sätze formulieren eine Frage, die sich christlichen Gemeinden in Europa, vor allem im Osten Deutschlands jeden Tag stellen könnten und selbstverständlich auch immer wieder stellen müssen.

Als vor über siebzig Jahren, im Oktober 1949, die DDR gegründet wurde, gehörten noch über neunzig Prozent der ostdeutschen Bevölkerung

einer der beiden großen Kirchen an.

Vor gut 30 Jahren, im Jahr des Untergangs der DDR, 1989,

betrug dieser Anteil im Durchschnitt kaum mehr als dreißig Prozent.

Aber was heißt hier schon Durchschnitt:

Insbesondere für machen Großstädte Deutschlands sieht die Statistik noch viel trüber als der schon ziemlich trübe Durchschnitt aus:

Fast neunzig Prozent der dort lebenden Bevölkerung sind, wie das so schön heißt, konfessionslos.

Wenn wir also die Frage unseres heutigen Predigttextes – „Wo sind aber die neun?“ – an uns selbst richten, liebe Gemeinde, dann ist die Antwort zunächst einmal vergleichsweise klar:

Jeweils einer von zehn gehört in manchen Gebieten Deutschlands noch zur Kirche, die übrigen neun sind konfessionslos und sind irgendwo.

Aber nicht in der Kirche. Da sind die neun von zehn.

Aber damit ist unsere Frage nach diesen neun in Wahrheit noch gar nicht beantwortet.

Wenn ich mich erkundige, wo sich beispielsweise mein Nachbar gerade aufhält und nur die Antwort bekomme, dass er sei nicht da, dann ist mir wenig geholfen. Soviel kann ich auch selbst erkennen.

 

Also nochmals gefragt: „Wo sind aber die neun“, wenn sie denn nicht da

sind?

Die neun von zehn Menschen aus der Großstädte?

Wo sind die Römer oder Deutschen in dieser Stadt, die schon ewig nicht mehr oder noch gar nie in dieser Kirche waren?

Wo sind die neun von zehn Aussätzigen,

die Jesus von Nazareth irgendwo auf dem Wege zwischen Samarien und Galiläa irgendwann vor vielen hundert Jahren geheilt hat?

 

Wenn wir so fragen, liebe Gemeinde, fällt schnell auf, dass die biblische

Geschichte auf unsere Frage keine Antwort bereithält.

Wir wissen leider nur, wo einer von zehn Geheilten ist.

„Einer aber unter ihnen“, heißt es bei Lukas in unserm Evangelium, „einer …, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm“.

Wo die neun anderen sind, wird nicht gesagt:

Feiern sie mit ihren Familien? Machen sie mal so richtig einen drauf, jetzt, wo sie sich wieder in die Öffentlichkeit trauen können? Wein, Weib und Gesang?

Oder ruhen sie sich erst mal aus von den Strapazen und schlafen den ersten gesunden Schlaf seit langem?

 

„Wo sind aber die neun?“

Wir wissen es nicht, liebe Gemeinde – wir wissen es von den neun Aussätzigen damals nicht, und ich befürchte, wir wissen es auch von den neunzig Prozent in Europas Großstädten nicht.

Wo sind die, die nicht in unsere Gottesdienste kommen? Was glauben die eigentlich? Natürlich gibt es zu solchen Fragen Statistiken:

Vier Prozent der Konfessionslosen glauben im Osten Deutschlands, dass es einen Gott gibt, neunundsechzig Prozent glauben’s nicht und der Rest weiß offenbar nicht so recht. Aber solche Statistiken sagen ja herzlich wenig.

An wen wenden sich diese Menschen,

wenn sie krank geworden sind, es aber keine Hilfe mehr gibt von den Ärzten und in den Krankenhäusern?

Woher wissen diese Menschen, dass sie für Opfer von Naturkatastrophen spenden und nicht alles überzählige Geld verprassen sollten für ihr eigenes Wohlleben – denn ganz offenkundig spenden sie ja. Viele, viele Fragen.

 

Unser Herr Jesus Christus, liebe Gemeinde, hat es bei einer einzigen rhetorischen Frage belassen: „Wo sind aber die neun?“

Und wir belassen es leider oft auch bei dieser einen einzigen rhetorischen Frage oder verfallen gar in die betrübte Klage: „Wo sind aber die neun?“. Und manche lamentieren dann sogar über den Verfall des christlichen Abendlandes, setzen die leeren Kirchen hierzulande mit den vollen

Moscheen anderorts in Verbindung – wir kennen das ja alle, für die Frage aber, wo genau nun die neun von zehn sind, die uns in Europa und auch in unserer Stadt fehlen, trägt solches kulturkritische Reden herzlich wenig aus.

 

Und hilft auch die Statistik nur begrenzt. Wir müssen solche Menschen schon selbst fragen, zu Veranstaltungen hier in dieser Kirche und anderswo einladen, müssen mit ihnen über Gott und die Welt ins Gespräch kommen, wenn wir wissen wollen, wo die neun geblieben sind in den vergangenen siebzig Jahren und warum sie nicht mehr gekommen sind.

Und wir müssen das wissen, wo genau sie sind, müssen das wissen,

wenn wir wenigstens ein paar zurückgewinnen wollen für die Kirche – natürlich nicht deswegen, damit in unserer Gemeinde die Statistik besser aussieht, nein, vielmehr deswegen,

weil in dieser Kirche Menschen heil werden können und das Heil Gottes von hier aus in diese heillose Welt ausgebreitet wird,

weil es sich besser leben lässt, wenn man dazu gehört,

und weil es wichtig ist, dass man am Ende des Lebens dazugehört, wenn hier die Lichter ausgehen und Gott uns gegenübersteht.

 

Soviel zur Frage „Wo sind aber die neun?“ und ihrer Bedeutung für uns als christliche Gemeinde im Europa von heute.

 

Hat aber aus dem ganzen reichen Evangelium lediglich diese eine einzige

Frage noch Bedeutung für heute?

Ist die Geschichte von den zehn Aussätzigen etwa nur der Bericht über eine längst vergangene, heute bedeutungslose Wunderheilung, die sich schon deswegen nicht mehr auf unsere Verhältnisse übertragen lässt, weil der Wunderheiler aus der Geschichte, Jesus von Nazareth, nicht mehr auf Erden wandelt und die Aussätzigen also auf die Künste der entsprechenden

Ärzte hoffen müssen?

 

Liebe Gemeinde, wir haben bisher – wie wir das ganz oft tun – unseren Ort beim Hören der Jesus-Geschichte, auf der Seite der Guten gewählt.

Wir sind keine Aussätzigen; wir gehören zu natürlich zu den Dankbaren und wir blicken empört und vielleicht auch voller Mitleid auf diese undankbaren Neun, die Jesus nicht danken.

Sie trifft keine Schuld! Ich habe die Predigt ja genauso aufgezogen.

Wir sind natürlich die Gesunden, die Guten, die Dankbaren.

 

Ein großer Theologe der evangelischen Kirche war da ganz anderer Meinung:

Johann Sebastian Bach, der in seinem ersten Jahr als Leipziger Thomaskantor 1723 unter dem provokanten Titel „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ eine beeindruckende Kantate zum heutigen Sonntagsevangelium geschrieben hat.

Bach hat gemeinsam mit seinem unbekannten Textdichter unseren Abschnitt aus dem Lukasevangelium in einer so radikalen Weise auf die Gegenwart bezogen, dass einem beim Hören fast schwindlig wird:

 

„Die ganze Welt ist nur ein Hospital,/

wo Menschen von unzählbar großer Zahl/

und auch die Kinder in der Wiegen/

an Krankheit hart darnieder liegen“.

 

So singt einleitend der Tenor.

Die Botschaft der Kantate Johann Sebastian Bachs ist vollkommen klar:

Die zehn Aussätzigen, die Jesus nach Lukas geheilt hat, stehen symbolisch für uns alle.

Wir alle sind der Heilung bedürftig, wir alle stehen vor unserem Herrn und sollten sprechen: „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!“.

Und wir alle können Heilung finden –

„du mein Arzt, Herr Jesu nur,/ weißt die beste Seelenkur“.

 

Wir alle können Heilung finden, wenn wir sie nur erbitten und uns dafür dankbar zeigen.

Ein kluges Handbuch zu den Kantaten Bachs nennt die Vorstellung, dass die ganze Welt ein Hospital sei und alle geheilt werden müssten, „heute nur schwer erträglich und alles andere als poetisch“.

Natürlich: Sonderlich poetisch klingt das nicht und schwer erträglich ist es auch, aber darum ist es doch nicht weniger wahr:

Da bringt ein Krieg Europa an die Grenze seiner diplomatischen Möglichkeiten, da sterben jeden Tag immer noch Tausende an Hunger und Krankheit oder durch Krieg, da nehmen sich in einer großen Stadt wie Berlin Jahr für Jahr fast fünfhundert Menschen das Leben, weil sie nicht aus noch ein wissen.

 

Wenn wir als Christenmenschen die Frage, wo die neun von zehn sind, die weggeblieben sind in den vergangenen Jahrzehnten, nicht bloß als rhetorische Frage stellen wollen, reicht es nicht aus,

die Lage dieser Welt und die Probleme unserer Mitmenschen sensibel wahrzunehmen.

Wir müssen auch davon überzeugt sein, dass uns, gerade uns, für das Heil der Welt ein Heiland geschenkt ist.

Wir müssen die fröhliche Gewissheit verbreiten, dass uns ein Arzt gegeben ist, der selber ist das Leben, wie es so schön in einem Kirchenlied des siebzehnten Jahrhunderts heißt.

Wir müssen als Christenmenschen durch heitere Gelassenheit zum Ausdruck bringen, dass es sich mit unserem Herrn und Heiland gut leben und sterben lässt.

Und wir müssen die Botschaft fröhlich weitersagen, dass Menschen in unserer Kirche an Leib und Seele gesund werden können.

 

Da bleibt dann eigentlich nur noch eine Frage: Wie können wir denn so heiter und gelassen werden?

Wie bauen wir fröhliche Gewissheit auf?

Und wie werden wir zu überzeugenden Botschaftern der guten Nachricht? Unser Evangelium gibt eine verblüffende einfache Antwort:

In dem wir danken lernen.

Lernen, für Gottes Wohltaten zu danken und anderen dankbar von diesen Wohltaten zu erzählen.

Wer dankbar ist, anderen dankbar erzählen kann, liebe Gemeinde,

der wird zugleich auch fröhlich, heiter, gelassen, der wirkt auf andere Menschen fröhlich, heiter und gelassen.

Wir sollen, sagt unser Evangelium, uns bemühen so zu werden wie der eine von den zehn, wie der eine, der aus ehrlichem Herzen

„Dankeschön“ sagt.

Und uns darauf freuen, dass umgekehrt mindestens einer von zehnen unsere Einladung annehmen wird, vielleicht nicht der, auf den wir gehofft haben, sondern irgendjemand, der gar nicht dazu gehört, wie damals die Samaritaner.

 

Um diese Dankbarkeit auszudrücken, braucht man nicht unbedingt die Musik Johann Sebastian Bachs, auch wenn ich mich freue, wenn unser Chor diese Musik bei uns hochhält.

 

Nein, danken und loben lernt man am besten, wenn man möglichst oft die wunderschönen Lob- und Danklieder unseres Gesangbuches liest und singt, die Choräle, die jener Johann Sebastian Bach so meisterlich vertont hat, und die in wahrhaft schwereren Zeiten schönere Worte gefunden haben als unsere satte Zeit.

Also fangen wir gleich an: Nun lasst uns Gott, dem Herren, Dank sagen und ihn ehren!

Amen.

14. Sonntag nach Trinitatis – Pfr. Dr. Jonas