Römer 8, 14-17
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen,
dass ihr euch abermals fürchten müsstet;
sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.
Liebe Gemeinde!
Erlauben Sie mir bitte, dass ich diese gehaltvollen Worte aus dem Römerbrief ganz vom Thema unseres Sonntags her auslege! Es geht heute um die Dankbarkeit. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ „Danket dem Herrn!“ „Vergiss nicht zu danken dem ewigen Herrn; er hat dir viel Gutes getan.“
Das ist alles schön und richtig und wunderbar zu singen. Aber es ist nicht so einfach. Denken wir heute einmal zusammen darüber nach, was Dankbarkeit eigentlich ist. Fragen wir uns, warum uns der Psalm 103 daran erinnern muss, das Gute nicht zu vergessen! Überlegen wir uns, warum so viele Menschen eher jammern und klagen als zu danken – Gott und ihren Mitmenschen!
Das sind alles wichtige Fragen, wenn wir die Dankbarkeit nicht als alte bürgerliche Tugend beiseitelegen oder Dankbarkeit nur als äußerlich eingeübte Pflichtübung sehen.
Wir sagen im Alltag ganz oft „Danke“, wenn wir etwas bekommen, beim Einkaufen und im Restaurant, zu Freunden und Geschäftspartnern.
Ist das nur Konvention, so wie wir „Guten Tag“ sagen? Oder ist das auch Ausdruck unserer inneren Haltung?
Sind wir wirklich dankbar, wenn wir „Danke“ sagen?
Freuen wir uns, wenn uns der Kellner eine Flasche kühles Wasser bringt, wenn die Kassiererin unsere Einkäufe abrechnet, wenn eine Freundin uns anruft? Oder sagen wir einfach nur „Danke“?
Ich bin mir einigermaßen sicher, dass man uns Menschen das auch abspürt, ob jemand von Herzen „Danke“ sagt und in Gedanken ganz wo anders ist, oder ob dabei eine Herzenshaltung zum Ausdruck kommt.
Wie dem auch sei: Dankbarkeit ist mehr als „Danke“ Sagen. Dankbarkeit ist eine Haltung. Dankbarkeit ist ein Gemütszustand, der angenehm ist und unserer Seele guttut. Dankbare Menschen sind glücklichere Menschen, sagen die Psychologen.
Und daher ist es erstrebenswert, dankbar zu sein, diese positive Grundeinstellung zu haben oder einzuüben.
Aber kann man das überhaupt: Dankbarkeit einüben?
Einer meiner Freunde hat so etwas getan. Er ist sehr erfolgreicher Manager, aber auch sehr gestresst. Und da hat er eine Art Beratung oder Therapie gemacht: Achtsamkeit und Dankbarkeit. Zu den teuren Beratungsgesprächen und Begleitbüchern hat er auch ein schickes Buch bekommen, das er jeden Abend benutzen sollte: Da waren für jeden Tag Tabellen abgedruckt, in die man eintragen sollte, wofür man am vergangenen Tag alles dankbar ist; auch die ganz kleinen Dinge. Also: Gute Begegnungen mit Menschen, erfolgreiche Entscheidungen, aber auch der milde Sonnenschein am Abend oder das Zwitschern der Vögel in der Mittagspause.
Ein guter Gedanke: Wer sich abends vorm Schlafengehen bewusst macht, was er alles an Gutem erlebt hat – denn selbst am finstersten Tag gibt es etwas Kleines, für das man danken kann! – der wird aufmerksamer, wird glücklicher, wird dankbarer. Das ist wahr!
Dieser Freund hat mir dieses Konzept stolz vorgestellt und sein „Danke-Buch“ gezeigt.
Aber da habe ich nur geschmunzelt und gedacht: Dieses Konzept hat nicht erst diese Beratungsfirma erfunden. Und für diese Übungen brauchst du auch nicht dieses teure Material kaufen.
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Das sagt schon die gute alte Bibel mit der Weisheit Israels.
Und die Idee, abends vor dem Schlafengehen in einem Gebet mit dem Vater im Himmel nochmals den Tag durchzugehen und zu überlegen, wofür man ihm alles danken kann, das habe ich schon als kleines Kind von meiner Mutter gelernt.
Dankbarkeit einzuüben und zu leben, auch in Ritualen zu leben, ist schon immer integraler Bestandteil von Religion. Und unser christlicher Glaube müsste eigentlich schon immer eine selbstverständliche Schule der Dankbarkeit sein.
Automatisch geht das wohl aber nicht. Denn Christen sind nicht automatisch dankbarer, und auch in der Kirche wird oft mehr geklagt als gedankt.
Dankbarkeit muss also lebenslang geübt werden. Nicht umsonst sind die Psalmen der Bibel und die Lieder des Gesangbuchs voll mit den Aufforderungen: „Danket dem Herrn!“, „Lobe den Herrn, meine Seele!“
Wenn wir das automatisch tun würden, müsste man uns nicht dazu auffordern!
Dank kann aber nicht nur angeordnet oder befohlen werden. Dankbarkeit muss sich erschließen, muss einem bewusst werden.
Und was uns bewusst werden soll, das finden (nach diesem langen Anlauf) in wunderbaren Bilden im Römerbrief:
I
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Das ist eine großartige Definition für das Christsein:
Vom Geist Gottes getrieben sein! Was heißt hier „getrieben“?
Stellen wir uns ein Segelschiff auf dem weiten Meer vor:
Es wird vom Wind getrieben. Es nimmt seine Kraft nicht aus sich selbst, sondern fängt sie mit seinen Segeln ein.
Ein gutes Segelschiff lässt sich vom Wind auch nicht in der Weise treiben, dass es orientierungslos dahintreibt, wohin der Wind es leitet.
Das wäre auch ein falsches Bild vom Glauben.
Ein gutes Segelschiff nimmt die Kraft des Windes auf, aber verzichtet gleichzeitig nicht darauf, selbst zu beobachten und zu steuern.
Vom Geist Gottes geleitet sein, bedeutet nicht, das Leben ohne Planung und Verantwortung einfach laufen zu lassen mit dem Gedanken: Gott wird schon alles für mich tun.
Nein! Von Gott geleitet zu sein, heißt, seine Kraft, seine Energie, sein Fundament und sein Ziel in Gott zu haben, aber dennoch jeden Tag selbst zu denken.
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder: Das gilt nicht für Propheten und besondere ekstatisch auftretenden Personen, die halbwegs verrückt sind und diese Welt schon hinter sich gelassen haben.
Das gilt für ganz normale Menschen wie dich und mich: Für Menschen, die ihre Lebensenergie, den Grund für ihr Dasein, den tieferen Sinn des ganzen Tuns und Lassens, die Kraft, jeden Tag anzugehen, von Gott her nehmen.
Denken Sie nochmal an das Segelschiff! Es nimmt seine Energie von außen. Es empfängt seine Kraft. So kann es niemals müde werden.
Das Holz des Mastes kann durchaus mal knirschen. Es wird auch manchen Sturm und manche Flaute erleben. Aber der Wind hat nie aufgehört.
Wie wollen wir leben? Wie wollen wir über das Meer des Lebens gelangen?
Mit der eigenen Muskelkraft und zwei Rudern, mit denen wir in der Jugend und bei voller Gesundheit ganz schön weit kommen und auch guten Eindruck auf andere machen können, weil unsere Muskelkraft für alle sichtbar ist, die aber niemals reichen wird, über den ganzen Ozean zu kommen?
Wie wollen wir über das Meer des Lebens gelangen?
Mit dumpfen schweren Dieselmotoren in unserm Rumpf, die viel Kraft haben, aber auch unheimlich viel Energie fressen: Die Energie von anderen übrigens! Energie, die wir kaufen müssen, erwerben oder im schlimmsten Falle stehlen, Energie, die immer auch ausgehen kann – im Unterschied zum Wind! Ziehen wir unsere Kraft aus anderen? Kommen wir voran, weil wir uns auf andere verlassen oder sie ausnutzen, gesellschaftlich, beruflich und privat.
Der Wind geht nicht aus. Den Wind muss ich nicht herstellen. Der Wind – wie aktuell dieses Bild doch ist – hat keine CO2-Bilanz.
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Wir können uns unser Leben als Segelschiff vorstellen, das angetrieben wird von der Energie unseres Schöpfers, vom Sinn unseres Herrn Jesus Christus, von der Inspiration des Heiligen Geistes.
Wir können uns fallen lassen auf und treiben lassen von dieser Kraft.
Wir können uns bewusst machen, dass wir uns nicht selber geschaffen haben, noch selber erhalten, sondern dass wir von Gott ins Leben gestellt wurden und von Gott durch Leben geführt werden und mit Gott einen inneren Kompass haben.
Leben wir als Segelschiff, nicht als kleines Ruderboot und nicht als schwerer Dampfer!
Und das wird uns dankbar machen. Denn nicht nur die kleinen Erlebnisse jedes einzelnen Tages verdanken wird Gott, sondern auch das große Ganze unseres Lebens. Wir haben einen Grund, einen Sinn und eine Kraft im Rücken.
Und wie ein Segelschiff von Leichtigkeit, Dynamik und Eleganz begleitet wird, so wird ein dankbares Leben auch leicht, dynamisch und elegant.
„Grazioso“: Das hat mit „grazie“ zu tun.
II
Nun redet unser Bibelwort aus dem Römerbrief ja nicht nur vom Geist, der treibt, sondern da ist ja auch noch die zweite Satzhälfte:
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Über die „Kinder Gottes“ wird in der Kirche viel gesprochen. Und kaum ein Ausdruck wird so inflationär verwendet und so süßlich missverstanden.
Kinder Gottes: Das klingt so nett und so unschuldig und kann den Eindruck entstehen lassen, dass gläubige Christen immer irgendwie kindlich naive Menschen bleiben und das verantwortliche Erwachsensein fürchten.
Kinder Gottes zu sein, ist aber kein Spielchen und keine Träumerei. Das sind ganz konkrete Eigenschaften und Rechte. Paulus erklärt sie dieser Stelle und hebt zwei Eigenschaften von Kindschaft heraus:
Erstens: Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen,
sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen.
Kinder sind keine Knechte. Sie haben zum Vater und Herrn eine ganz andere Beziehung als ein Sklave, eine Angestellte oder sogar eine geschätzte Mitarbeiterin.
Ein Herr wird seine guten Mitarbeiter und Angestellten schätzen, seine Kinder aber wird er lieben.
Ein konsequenter Chef wird seine Angestellten, wenn diese untreu werden, feuern. Er kann sich von ihnen trennen.
Ein Vater wird seine Kinder, auch wenn sie untreu werden, auch wenn sie den größten Unsinn machen, weiterhin annehmen. Er bleibt immer ihr Vater.
Kinder haben immer Zugang zu ihrem Vater. Während Angestellte und Diener einen Termin machen müssen oder sich durch mehrere Vorzimmer kämpfen, so wird ein Kind doch immer das Herz seines Vaters direkt erreichen.
Kinder sagen – meistens als erste Worte überhaupt – „Mamma“ oder „Papa“. Diese frühkindlichen Laute drücken das Urvertrauen aus, das wir in unsere Eltern haben.
Und das wendet Paulus auf unsere Gottesbeziehung an: Zu Gott können wir rufen: „Abba, lieber Vater!“ Das ist die gleiche Lautbildung wie „Papa“.
Wir haben Zugang zum Herz des Vaters, und wir können ein Urvertrauen zu ihm haben. Wir können heulend zu ihm laufen mit allem, was wir haben.
Das andere, was Kinder auszeichnet, ist, dass sie Erben sind. Freunde können ganz eng sein, Mitarbeiter ganz hoch im Kurs, aber erben – das tun automatisch nur die Kinder.
Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.
Was erben wir denn von Gott?
Für das alte Israel war das Erbe, das meist der älteste Sohn bekam, das Stück Land des Vaters. Land, das war in der archaischen Kultur lebensnotwendig. Nur wer ein Stück Land hatte, konnte seine Familie versorgen.
In unserer Vorstellung ist Erbe ja meistens mit Geld oder gegebenenfalls mit Häusern verbunden.
Erbe – das ist in biblischem Denken immer mit Land verbunden, mit einem Ort, wo man sein kann, wo man Zukunft hat.
Wir bekommen von Gott als Erbe einen Ort, wo wir in Ewigkeit sein können. Kein Ackerland, sondern einen Platz im Himmel, einen Ort, wo wir aufgehoben sind, einen Platz, wo wir geborgen und heil sind, oder wie auch immer Sie sich die Ewigkeit vorstellen…
Gottes Kind zu sein, das ist keine Verniedlichung des Menschseins, sondern das sind konkrete Rechte. Das sind Grundlagen, die unser Leben sicher und leicht machen können. Das sind Einsichten, die uns dankbar machen können, dankbar mit einer tiefen Dankbarkeit, die über die schönen Erlebnisse eines einzelnen Tages weit hinausgeht.
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
Liebe Gemeinde, darin steckt das Rezept für die Dankbarkeit, darin steckt das Rezept für eine innere Ruhe, darin steckt das Rezept für die Fähigkeit, mit manchem Leiden umzugehen.
Das Segelschiff unseres Lebens wird weiterfahren. Gottes Geist hat nicht aufgehört zu wehen. Und wenn wir davon nichts spüren, dann müssen wir die Segel vielleicht wieder höher hissen.
Und das Segelschiff unseres Lebens wird eines Tages, wie stürmisch die Reise auch war, im sicheren Hafen ankommen.
Dank sei Gott, dem Herrn! Amen.