Psalm 90

Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. /

2Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3Der du die Menschen lässest sterben

und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

4Denn tausend Jahre sind vor dir /

wie der Tag, der gestern vergangen ist,

und wie eine Nachtwache.

5Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, /

sie sind wie ein Schlaf,

wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,

6das am Morgen blüht und sprosst

und des Abends welkt und verdorrt.

7Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen,

und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen.

8Denn unsre Missetaten stellst du vor dich,

unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.

9Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn,

wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.

10Unser Leben währet siebzig Jahre,

und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre,

und was daran köstlich scheint,

ist doch nur vergebliche Mühe;

denn es fähret schnell dahin,

als flögen wir davon.

11Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest,

und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?

12Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,

auf dass wir klug werden.

13Herr, kehre dich doch endlich wieder zu uns

und sei deinen Knechten gnädig!

14Fülle uns frühe mit deiner Gnade,

so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.

 

Liebe Gemeinde!

Wenn ein Mensch verstorben ist, dann wird uns das meist mit ganz besonderen sprachlichen Formulierungen mitgeteilt. So gut wie nie steht in einer Todesanzeige: „NN ist tot.“, sondern wir lesen Ausdrücke wie „NN ist entschlafen, ist eingeschlafen, ist aus unserer Mitte gegangen, ist verschieden“.

So altmodisch diese Formulierungen auch sind, so notwendig erscheinen sie bis heute, um die Härte und Kälte des Todes wenigstens ein bisschen abzumildern. Auch unter Ärzten, die ja oft Todesfälle mitteilen müssen, ist es unüblich, ohne Umschweife zu sagen „Ihre Mutter ist gestorben.“ Hier ist häufig die Formulierung zu hören: „Ihre Mutter hat es nicht geschafft.“ Dieser Euphemismus schließt ja eine gehörige Verallgemeinerung und Unklarheit mit ein, aber er scheint Ärzten offenbar über die Lippen zu gehen als der klare Satz „Ihr Mutter ist gestorben.“

Ich erinnere mich an einen Kurs in Notfallseelsorge gemeinsam mit Polizisten, Notärzten und Pfarrern. Die anwesende Psychologin konfrontierte die anwesenden Ärzte mit deren undeutlicher Redeweise. „Weichen Sie nicht aus!“, sagte sie immer wieder, „Lernen Sie, die klare Realität des Todes auszusprechen. Wenn Sie das nicht tun, wer tut es dann?“

Wie reden wir in der Kirche vom Tod?

Hoffentlich würdig und respektvoll gegenüber den Verstorbenen.

Aber dann eben doch auch verallgemeinernd, verharmlosend und die Realität verschleiernd? Verschleiernd mit frommen religiösen Bildern und Metaphern von Ruhe, Frieden und Jenseits, die im schlimmsten Falle blanke Lüge sind?

Flüchten wir uns auch in ein Vokabular, das zwar beim ersten Hören die Härte nimmt, die Konfrontation mit dem Schmerz verhindert, aber dann eben doch den harten Kern der Situation vernebelt?

Man kann von der Psychologie viel oder wenig verstehen, aber so viel wissen wir alle: Wo die Realität nicht wahrgenommen und angenommen wird, da kann kein Heilungsprozess beginnen – auch nicht in der Trauer. Wo das harte Faktum eines Todes verdrängt, umschifft oder verharmlost wird, da kann es mit uns nicht besser werden, genau wie bei einer infizierten Wunde, die wir nur bedecken, aber nicht behandeln.

 

Man kann der Kirche viel vorwerfen an frömmelnder, süßlicher, oberflächlicher Verkündigung, aber dem Psalm 90, der so etwas wie das Urgestein biblischer Trauerkultur ist, kann man alles Mögliche vorwerfen, aber mangelnden Realismus nicht!

Unser Psalmwort blickt dem Tod klar ins Angesicht:

„Du lässt die Menschen sterben.

Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,

sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt.“

Hier wird nichts verschleiert und nichts abgemildert.

Hier wird auch nichts verallgemeinert und relativiert, wie wir das oft auch in ganz weltlichen, gar nicht religiösen Todesnachrichten lesen oder in Todesgedanken hören:

„Ach, das Leben war doch so reich und schön, da darf man über den Tod nicht klagen.“

„Ach, die Erinnerungen bleiben uns ja, da ist der Abschied ja nicht so radikal.“

„Ach, die Taten und Leistungen bleiben ja bestehen, das ist es doch, was ein Leben ausmacht.“

 

Psalm 90 schaut nicht nur der Realität des Todes ins Gesicht, sondern überträgt diesen ungeschönten Blick auch auf das ganze Leben:

„Wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.

Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“

 

Nüchternere, demütigere und bescheidenere Worte über das menschliche Leben kenne ich nicht. Und da soll noch jemand sagen, der Glaube sei eine schön zurecht gedachte Traumwelt!

 

Vor Gottes Anspruch und Wesen ist unser Leben ein Windhauch. Vor seiner Ewigkeit sind wir ein Wimpernschlag. Und was seinen Anspruch betrifft, so kann unsere Lebensleistung nur seinen Zorn auslösen.

 

Wohin führt uns dieser kompromisslos nüchterne Realismus des Psalms?

In die Depression? In die Resignation? Ist dann alles wertlos und sinnlos?

Ist dann alles nichts?

 

Keinesfalls!

Psalm 90, der die gesamte Erfahrung und Weisheit Israels in sich konzentriert, Psalm 90, der nicht zufällig dem alten Mose zugeschrieben wird, geht aufrecht und klar in eine andere Richtung:

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Das ist die erste Konsequenz aus der Realisierung des Todes.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Wir sollen angesichts der Macht des Todes nicht verzweifeln, nicht tatenlos werden, nicht faul werden. Wir sollen klug werden!

Wir sollen unsere begrenzten Tage sinnvoll füllen. Wir sollen unsere Beziehungen so pflegen, dass sie in unsere Lebenszeit passen. Wir sollen uns nicht über die Welt erheben, sondern unseren Platz in dieser Welt finden.

Wer um den Tod weiß, der verdrängt ihn nicht, der blendet ihn nicht aus, der gestaltet seine Lebenszeit ganz bewusst.

Lebenszeit ist geschenkte Zeit. So sollen wir sie auch annehmen.

Man kann ein Geschenk missmutig und unzufrieden in die Ecke werfen. Man kann es auch langsam, Stück für Stück, auspacken, entdecken und sich immer wieder daran freuen. Darum geht es.

 

Der Psalm zieht aber noch eine andere Konsequenz aus der Realität des Todes. Er bleibt nicht bei der Konzentration auf ein bewusstes irdisches Leben. Das wäre ja nichts anders, als auch die Marxisten und Naturalisten fordern.

Nein, zur Klugheit, die uns der Tod lehren soll, gehört für den Psalm noch etwas anderes:

„Du, Herr, bist unsre Zuflucht für und für.

Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Gottes Ewigkeit wird nicht nur festgestellt und dem menschlichen Wesen entgegengestellt, Gottes Ewigkeit wird zur Zuflucht des vergänglichen Menschen!

Gottes Zeitlosigkeit ist hier keine bloßes philosophisches Axiom, sondern Gottes Erhabenheit über die Zeit ist „Zuflucht für und für“.

 

Der Mensch muss sich angesichts seiner Vergänglichkeit nicht aufgeben, nicht verstecken, nicht verzweifeln. Er kann sich werfen auf Gottes Ewigkeit. Er kann sich bergen in Gottes zeitlosem Wesen. Er kann dorthin zurückkehren, woher er gekommen ist, in die Hand seines Schöpfers, vor das Angesicht dessen, der ihn wollte und will.

 

Gottes Ewigkeit ist kein langweiliger theologischer Gedanke.

Gottes Ewigkeit ist nicht nur unbegrenzte Zukunft, in der uns begrenzten Menschen früher oder später langweilig würde.

Gottes Ewigkeit ist Erhabenheit über die Dimensionen von Raum und Zeit.

Denn wenn Gott Raum und Zeit erschaffen hat, dann steht er über ihnen, außerhalb von ihnen.

Und dann gilt für Gott all das nicht, was Raum und Zeit für uns bedeuten: Alt werden, Grenzen spüren, Mangel erleben, Vergangenes vermissen, Kommendes nicht kennen, Verlust erleben.

 

Gott steht über Raum und Zeit. Das ist Ewigkeit.

„Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. /

Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Wir sehen schon an der Grammatik, dass hier bei uns geltende zeitliche Begrenzungen gesprengt werden.

„Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Wo eigentlich Vorvergangenheit (Plusquamperfekt) stehen müsste, steht Gegenwart (Präsens).

Gottes Sein kennt nur Gegenwart. Wo er ist, da gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, da gibt es nur die Fülle der Zeit, eine Gegenwart, in der alles aufgehoben ist, was war und sein wird.

Und diese Ewigkeit steht uns nicht nur als Kontrastbild gegenüber.

Diese Ewigkeit wird durch die Beziehung zu Gott zugänglich:

Herr, Gott, du bist unsere Zuflucht für uns für. Wir kommen zu dir! Wir halten uns an dir fest.

Zweimal redet der Psalm von Beziehung.

Gott sagt zu den Menschen:

„Kommt wieder, Menschenkinder!“

Und die Menschen sagen zu Gott: „HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns!“

Zweimal verwendet der Psalm dasselbe Verb: „Wenden“.

 

Hier liegt die Berührung zwischen ewigem Gott und sterblichem Mensch:

Gott wendet sich dem Menschen zu, und der Mensch wendet sich Gott zu.

Einfacher und zarter kann man Jenseitshoffnung nicht ausdrücken.

 

Israels Gott ist kein Gott der Philosophen, der notfalls auch für sich allein bestehen könnte in seiner fernen Erhabenheit. Israels Gott ist ein Gott der Beziehung: Er wendet sich seinen Geschöpfen zu. Auch aus der Ewigkeit herab. Das ist die Grundlage unserer Hoffnung.

 

Wer eine Beziehung zu Gott hat, hat auch teil an seiner Ewigkeit.

Jesus bringt es im Johannesevangelium auf den Punkt:

„Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (14,19).

Gott behält sein ewiges Leben nicht für sich.

Jesus behält sein ewiges Leben nicht für sich.

Er teilt es mit denen, die sich an ihn binden.

 

Wer mit Gott zu tun hat, hat es mit der Ewigkeit zu tun.

Und wer sich an Jesus festmacht, der hat seinen Anker jetzt schon in die Ewigkeit geworfen.

Was immer auch kommt: diese Beziehung hält und trägt.

Oder mit den Worten aus Psalm 90:

Du bist unsere Zuflucht für uns für.

 

„O Ewigkeit, du Donnerwort, / o Schwert, das durch die Seele bohrt, /

o Anfang ohne Ende! / O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, /

ich weiß vor großer Traurigkeit / nicht, wo ich mich hinwende. /

Nimm du mich, wann es dir gefällt, / Herr Jesus, in dein Freudenzelt!“

 

So sang die lutherische Kirche lange mit Worten von Johann Rist (1642).

So komponierte Johann Sebastian Bach 1723 seine Kantate zum Ende des Kirchenjahres.

So malte Oskar Kokoschka 1914 eine 11-teilige Bilderserie.

Aber wir, wir sind beim Thema der Ewigkeit bemerkenswert leise geworden. Warum eigentlich?

 

 

Unter den verschiedenen Formulierungen, mit denen Todesnachrichten traditionell mitgeteilt werden, lautet eine:

„NN wurde in die Ewigkeit abberufen.“

Altmodisch: ja. Abmildernd und tröstend: ja.

Aber richtig und zutreffend!

Wer im Glauben stirbt, wechselt über in Gottes Sphäre.

Wer im Glauben stirbt, der beendet nicht nur sein begrenztes biologisches Leben innerhalb von Raum und Zeit, sondern der kehrt ein in Gottes Ewigkeit, der findet Zuflucht, bei dem der vor aller Zeit schon ist und nach aller Zeit noch ist.

Diese Ewigkeit ist kein fremder kalter Ort. Die Ewigkeit ist der Ort, wo wir schon erdacht wurden, bevor unsere Eltern überhaupt an uns dachten.

Bei Gott ist Zuflucht, Geborgenheit, Heimat.

Dort werden wir erkannt als die, die wir wirklich sind (1Kor 13,12).

Und wir, wir werden auch manches erkennen, von dem, was war, und dem, was sein wird.

Aber vor allem das, was immer gilt und fest und beständig bleibt:

Du Herr, bist unsere Zuflucht, für und für.

Amen.Psalm 90

Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. /

2Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

3Der du die Menschen lässest sterben

und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

4Denn tausend Jahre sind vor dir /

wie der Tag, der gestern vergangen ist,

und wie eine Nachtwache.

5Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, /

sie sind wie ein Schlaf,

wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst,

6das am Morgen blüht und sprosst

und des Abends welkt und verdorrt.

7Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen,

und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen.

8Denn unsre Missetaten stellst du vor dich,

unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.

9Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn,

wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.

10Unser Leben währet siebzig Jahre,

und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre,

und was daran köstlich scheint,

ist doch nur vergebliche Mühe;

denn es fähret schnell dahin,

als flögen wir davon.

11Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest,

und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?

12Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,

auf dass wir klug werden.

13Herr, kehre dich doch endlich wieder zu uns

und sei deinen Knechten gnädig!

14Fülle uns frühe mit deiner Gnade,

so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.

 

Liebe Gemeinde!

Wenn ein Mensch verstorben ist, dann wird uns das meist mit ganz besonderen sprachlichen Formulierungen mitgeteilt. So gut wie nie steht in einer Todesanzeige: „NN ist tot.“, sondern wir lesen Ausdrücke wie „NN ist entschlafen, ist eingeschlafen, ist aus unserer Mitte gegangen, ist verschieden“.

So altmodisch diese Formulierungen auch sind, so notwendig erscheinen sie bis heute, um die Härte und Kälte des Todes wenigstens ein bisschen abzumildern. Auch unter Ärzten, die ja oft Todesfälle mitteilen müssen, ist es unüblich, ohne Umschweife zu sagen „Ihre Mutter ist gestorben.“ Hier ist häufig die Formulierung zu hören: „Ihre Mutter hat es nicht geschafft.“ Dieser Euphemismus schließt ja eine gehörige Verallgemeinerung und Unklarheit mit ein, aber er scheint Ärzten offenbar leichter über die Lippen zu gehen als der klare Satz „Ihr Mutter ist gestorben.“

Ich erinnere mich an einen Kurs in Notfallseelsorge gemeinsam mit Polizisten, Notärzten und Pfarrern. Die anwesende Psychologin konfrontierte die anwesenden Ärzte mit deren undeutlicher Redeweise. „Weichen Sie nicht aus!“, sagte sie immer wieder, „Lernen Sie, die klare Realität des Todes auszusprechen. Wenn Sie das nicht tun, wer tut es dann?“

Wie reden wir in der Kirche vom Tod?

Hoffentlich würdig und respektvoll gegenüber den Verstorbenen.

Aber dann eben doch auch verallgemeinernd, verharmlosend und die Realität verschleiernd? Verschleiernd mit frommen religiösen Bildern und Metaphern von Ruhe, Frieden und Jenseits, die im schlimmsten Falle blanke Lüge sind?

Flüchten wir uns auch in ein Vokabular, das zwar beim ersten Hören die Härte nimmt, die Konfrontation mit dem Schmerz verhindert, aber dann eben doch den harten Kern der Situation vernebelt?

Man kann von der Psychologie viel oder wenig verstehen, aber so viel wissen wir alle: Wo die Realität nicht wahrgenommen und angenommen wird, da kann kein Heilungsprozess beginnen – auch nicht in der Trauer. Wo das harte Faktum eines Todes verdrängt, umschifft oder verharmlost wird, da kann es mit uns nicht besser werden, genau wie bei einer infizierten Wunde, die wir nur bedecken, aber nicht behandeln.

 

Man kann der Kirche viel vorwerfen an frömmelnder, süßlicher, oberflächlicher Verkündigung, aber dem Psalm 90, der so etwas wie das Urgestein biblischer Trauerkultur ist, kann man alles Mögliche vorwerfen, aber mangelnden Realismus nicht!

Unser Psalmwort blickt dem Tod klar ins Angesicht:

„Du lässt die Menschen sterben.

Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,

sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt.“

Hier wird nichts verschleiert und nichts abgemildert.

Hier wird auch nichts verallgemeinert und relativiert, wie wir das oft auch in ganz weltlichen, gar nicht religiösen Todesnachrichten lesen oder in Todesgedanken hören:

„Ach, das Leben war doch so reich und schön, da darf man über den Tod nicht klagen.“

„Ach, die Erinnerungen bleiben uns ja, da ist der Abschied ja nicht so radikal.“

„Ach, die Taten und Leistungen bleiben ja bestehen, das ist es doch, was ein Leben ausmacht.“

 

Psalm 90 schaut nicht nur der Realität des Todes ins Gesicht, sondern überträgt diesen ungeschönten Blick auch auf das ganze Leben:

„Wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.

Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“

 

Nüchternere, demütigere und bescheidenere Worte über das menschliche Leben kenne ich nicht. Und da soll noch jemand sagen, der Glaube sei eine schön zurecht gedachte Traumwelt!

 

Vor Gottes Anspruch und Wesen ist unser Leben ein Windhauch. Vor seiner Ewigkeit sind wir ein Wimpernschlag. Und was seinen Anspruch betrifft, so kann unsere Lebensleistung nur seinen Zorn auslösen.

 

Wohin führt uns dieser kompromisslos nüchterne Realismus des Psalms?

In die Depression? In die Resignation? Ist dann alles wertlos und sinnlos?

Ist dann alles nichts?

 

Keinesfalls!

Psalm 90, der die gesamte Erfahrung und Weisheit Israels in sich konzentriert, Psalm 90, der nicht zufällig dem alten Mose zugeschrieben wird, geht aufrecht und klar in eine andere Richtung:

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Das ist die erste Konsequenz aus der Realisierung des Todes.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Wir sollen angesichts der Macht des Todes nicht verzweifeln, nicht tatenlos werden, nicht faul werden. Wir sollen klug werden!

Wir sollen unsere begrenzten Tage sinnvoll füllen. Wir sollen unsere Beziehungen so pflegen, dass sie in unsere Lebenszeit passen. Wir sollen uns nicht über die Welt erheben, sondern unseren Platz in dieser Welt finden.

Wer um den Tod weiß, der verdrängt ihn nicht, der blendet ihn nicht aus, der gestaltet seine Lebenszeit ganz bewusst.

Lebenszeit ist geschenkte Zeit. So sollen wir sie auch annehmen.

Man kann ein Geschenk missmutig und unzufrieden in die Ecke werfen. Man kann es auch langsam, Stück für Stück, auspacken, entdecken und sich immer wieder daran freuen. Darum geht es.

 

Der Psalm zieht aber noch eine andere Konsequenz aus der Realität des Todes. Er bleibt nicht bei der Konzentration auf ein bewusstes irdisches Leben. Das wäre ja nichts anders, als auch die Marxisten und Naturalisten fordern.

Nein, zur Klugheit, die uns der Tod lehren soll, gehört für den Psalm noch etwas anderes:

„Du, Herr, bist unsre Zuflucht für und für.

Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Gottes Ewigkeit wird nicht nur festgestellt und dem menschlichen Wesen entgegengestellt, Gottes Ewigkeit wird zur Zuflucht des vergänglichen Menschen!

Gottes Zeitlosigkeit ist hier kein bloßes philosophisches Axiom, sondern Gottes Erhabenheit über die Zeit ist „Zuflucht für und für“.

 

Der Mensch muss sich angesichts seiner Vergänglichkeit nicht aufgeben, nicht verstecken, nicht verzweifeln. Er kann sich werfen auf Gottes Ewigkeit. Er kann sich bergen in Gottes zeitlosem Wesen. Er kann dorthin zurückkehren, woher er gekommen ist, in die Hand seines Schöpfers, vor das Angesicht dessen, der ihn wollte und will.

 

Gottes Ewigkeit ist kein langweiliger theologischer Gedanke.

Gottes Ewigkeit ist nicht nur unbegrenzte Zukunft, in der uns begrenzten Menschen früher oder später langweilig würde.

Gottes Ewigkeit ist Erhabenheit über die Dimensionen von Raum und Zeit.

Denn wenn Gott Raum und Zeit erschaffen hat, dann steht er über ihnen, außerhalb von ihnen.

Und dann gilt für Gott all das nicht, was Raum und Zeit für uns bedeuten: Alt werden, Grenzen spüren, Mangel erleben, Vergangenes vermissen, Kommendes nicht kennen, Verlust erleben.

 

Gott steht über Raum und Zeit. Das ist Ewigkeit.

„Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. /

Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Wir sehen schon an der Grammatik, dass hier bei uns geltende zeitliche Begrenzungen gesprengt werden.

„Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden,

bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Wo eigentlich Vorvergangenheit (Plusquamperfekt) stehen müsste, steht Gegenwart (Präsens).

Gottes Sein kennt nur Gegenwart. Wo er ist, da gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, da gibt es nur die Fülle der Zeit, eine Gegenwart, in der alles aufgehoben ist, was war und sein wird.

Und diese Ewigkeit steht uns nicht nur als Kontrastbild gegenüber.

Diese Ewigkeit wird durch die Beziehung zu Gott zugänglich:

Herr, Gott, du bist unsere Zuflucht für uns für. Wir kommen zu dir! Wir halten uns an dir fest.

Zweimal redet der Psalm von Beziehung.

Gott sagt zu den Menschen:

„Kommt wieder, Menschenkinder!“

Und die Menschen sagen zu Gott: „HERR, kehre dich doch endlich wieder zu uns!“

Zweimal verwendet der Psalm dasselbe Verb: „Wenden“.

 

Hier liegt die Berührung zwischen ewigem Gott und sterblichem Mensch:

Gott wendet sich dem Menschen zu, und der Mensch wendet sich Gott zu.

Einfacher und zarter kann man Jenseitshoffnung nicht ausdrücken.

 

Israels Gott ist kein Gott der Philosophen, der notfalls auch für sich allein bestehen könnte in seiner fernen Erhabenheit. Israels Gott ist ein Gott der Beziehung: Er wendet sich seinen Geschöpfen zu. Auch aus der Ewigkeit herab. Das ist die Grundlage unserer Hoffnung.

 

Wer eine Beziehung zu Gott hat, hat auch teil an seiner Ewigkeit.

Jesus bringt es im Johannesevangelium auf den Punkt:

„Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (14,19).

Gott behält sein ewiges Leben nicht für sich.

Jesus behält sein ewiges Leben nicht für sich.

Er teilt es mit denen, die sich an ihn binden.

 

Wer mit Gott zu tun hat, hat es mit der Ewigkeit zu tun.

Und wer sich an Jesus festmacht, der hat seinen Anker jetzt schon in die Ewigkeit geworfen.

Was immer auch kommt: diese Beziehung hält und trägt.

Oder mit den Worten aus Psalm 90:

Du bist unsere Zuflucht für uns für.

 

„O Ewigkeit, du Donnerwort, / o Schwert, das durch die Seele bohrt, /

o Anfang ohne Ende! / O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, /

ich weiß vor großer Traurigkeit / nicht, wo ich mich hinwende. /

Nimm du mich, wann es dir gefällt, / Herr Jesus, in dein Freudenzelt!“

 

So sang die lutherische Kirche lange mit Worten von Johann Rist (1642).

So komponierte Johann Sebastian Bach 1723 seine Kantate zum Ende des Kirchenjahres.

So malte Oskar Kokoschka 1914 eine 11-teilige Bilderserie.

Aber wir, wir sind beim Thema der Ewigkeit bemerkenswert leise geworden. Warum eigentlich?

 

 

Unter den verschiedenen Formulierungen, mit denen Todesnachrichten traditionell mitgeteilt werden, lautet eine:

„NN wurde in die Ewigkeit abberufen.“

Altmodisch: ja. Abmildernd und tröstend: ja.

Aber richtig und zutreffend!

Wer im Glauben stirbt, wechselt über in Gottes Sphäre.

Wer im Glauben stirbt, der beendet nicht nur sein begrenztes biologisches Leben innerhalb von Raum und Zeit, sondern der kehrt ein in Gottes Ewigkeit, der findet Zuflucht, bei dem, der vor aller Zeit schon ist und nach aller Zeit noch ist.

Diese Ewigkeit ist kein fremder kalter Ort. Die Ewigkeit ist der Ort, wo wir schon erdacht wurden, bevor unsere Eltern überhaupt an uns dachten.

Bei Gott ist Zuflucht, Geborgenheit, Heimat.

Dort werden wir erkannt als die, die wir wirklich sind (1Kor 13,12).

Und wir, wir werden auch manches erkennen, von dem, was war, und dem, was sein wird.

Aber vor allem das, was immer gilt und fest und beständig bleibt:

Du Herr, bist unsere Zuflucht, für und für.

Amen.

Ewigkeitssonntag – Pfr. Dr. Jonas