Jesaja 54,7-10

So spricht Gott:

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen,

aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.

Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen,

aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.

Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten.

So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,

aber meine Gnade soll nicht von dir weichen,

und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

 

 

Liebe Gemeinde,

die meisten Menschen waren gerade in den Kirchen der Stadt, als das völlig Unvorhersehbare passierte. Kein Mensch hatte geahnt, was an diesem Tag geschehen sollte.

Am Morgen des Allerheiligentages des Jahres 1755 wurde die portugiesische Hauptstadt Lissabon von einem Erdbeben erschüttert, das gewaltige Ausmaße hatte. Meterbreite Gräben rissen sich im Boden auf. Das Meer zog sich erst zurück und kehrte dann in einer zerstörerischen Tsunami-Welle zurück. Fast 100.000 Menschen verloren ihr Leben. Die Stadt wurde zu 85% zerstört. Die königlichen Paläste genauso wie die Häuser der Armen. Das Erdbeben zerstörte auch die Kathedrale Santa Maria und alle anderen prächtigen Kirchen Lissabons. Das königliche Allerheiligenhospital fiel einen Brand zum Opfer; Hunderte von wehrlosen Kranken kamen um.

Ja, Berge können weichen und Hügel wohl hinfallen.

Jenes Erdbeben von Lissabon und das kürzliche Erdbeben in der Türkei und Syrien macht uns das grausam deutlich.

Es gibt wohl keine größere Verunsicherung des Menschen, als wenn sich der Boden unter ihm bewegt und sich tiefe Spalten öffnen. Dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, ist nicht zufällig eine übliche Redensart, wenn es um die absolute Verunsicherung geht.

Das Erdbeben von Lissabon hatte nicht nur Zerstörung in der Stadt angerichtet. Eine Welle des Entsetzens zog durch Europa.

Wie hatte das geschehen können? Man hatte sich in jener Zeit einigermaßen sicher und fortschrittlich gefühlt. Und wurde die vermeintliche Stabilität gewaltig erschüttert.

Die Philosophen mussten sich ganz neu mit dieser Frage auseinandersetzen, und manche ihrer allzu positiven Weltansichten umwerfen.

Und warum, fragten sich die Christen, traf das Erdbeben eine so streng katholische Stadt, warum fielen die Kirchen ein; und was hatte es zu bedeuten, dass dies gerade am Festtag Allerheiligen passierte?

Ja, Berge können hinfallen und Hügel wohl weichen.

Stabilitäten, von denen wir Menschen ausgehen, können einfach wegbrechen.

Es geht ja lange nicht nur um Erdbeben und sichtbare Zerstörung. Es geht auch um die Stabilitäten, auf die wir innerlich bauen. Denn wir stehen ja beileibe nicht nur auf dem Erdboden unter unsern Füßen, sondern auch auf dem Boden unserer Beziehungen, unserer Gesundheit und unseres Erfolges.

Und jede dieser Stabilitäten kann weichen und fallen.

Ich muss Ihnen nicht sagen, was es bedeutet, wenn solch eine Stabilität wegfällt, auf die man bisher gebaut hat. Wenn der Körper nicht mehr einfach mitmacht, wenn der Beruf, so wie er war, wegbricht oder wenn einem ein Mensch, für den man bisher gelebt hat, genommen wird.

Sie alle werden solche Erschütterungen, solche Erdbeben unseres Lebens schon auf verschiedene Weisen erlitten haben.

Und wie viele unserer Stabilitäten sind doch nur unsere eigenen Ideen und Träume? Auf wie viele Dinge verlassen wir uns, die gar keine Sicherheit bieten können?

Ein Student hat mir einmal erzählt, wie sehr er in seine Freundin verliebt war, die für ein Jahr nach Brasilien gegangen ist. Vier Monate lang, hat er gesagt, habe ich nur auf den Tag hingelebt, an dem ich sie wiedersehen werde. Ich habe nur davon gelebt und dafür gearbeitet, dass ich sie bald wieder treffen werde.

Und jetzt kurz bevor er nach dem Semester nach Brasilien fliegen wollte, hat sie ihm am Telefon gesagt, dass es nichts mehr sei.

Ja, Berge können hinfallen und Hügel wohl weichen.

Das, was wir für stabil und unverrückbar halten, kann sich gefährlich bewegen. Und es ist in der Tat nicht bloß ein Gedanken spiel, wenn es in unserem Jesajawort heißt, es mögen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, und dass die Wasser des Noah über die Erde über die Erde gehen. Das ist ernste und bittere Realität. Und ein Gottesglaube, der das ausblendete, wäre naiv und könnte bei der nächsten Katastrophe dieser Welt nicht weiter mitreden. Die Erfahrung lehrt uns das schon, wenn wir nur ehrlich hinschauen auf diese Welt – und auf unsere Leben.

 

Unser Gott aber, liebe Gemeinde, steht über den Erschütterungen dieser Welt. Ob es hier gleich kracht und blitzt; er ist unerschütterlich.

Ewig und unwandelbar ist er; das macht sein Wesen als Gott aus.

Dass er stabil bleibt, wenn bei uns alles in Trümmern liegt, das ist wahr, das ist tausendmal wahr.

Aber das ist nicht der Kern unseres Jesajawortes heute.

Dass Gott nicht erzittert und ewig bleibt, das wissen schon die alten Griechen, die Philosophen und Weisen der Welt.

Aber schwebt denn der heilige, starke, unsterbliche Gott in seinem sicheren Himmel, während hier unter ihm eine Welt zusammenbricht?

Wo wären da Gnade und Barmherzigkeit?

Gnade und Barmherzigkeit, die die Griechen als Eigenschaft für Gott nicht kennen, die aber für unser biblisches Gottesbild ganz wichtig sind.

Und hier bei Jesaja tritt es uns wie eine Zusammenfassung vor Augen:

Mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.

Das ist das Wesen unseres Gottes, nicht nur dass er ewig ist, sondern dass er sich zu uns herabbeugt, nicht, dass er in seiner Stabilität und Heiligkeit bleibt, sondern dass er sich herab begibt in die tiefen Spalten unseres Zerbruchs.

Und nun beschreibt das Gotteswort bei Jesaja genauer, wie diese Barmherzigkeit, wie dieses Herabbeugen aussieht.

 

I.

Ich will dich sammeln, heißt es da.

Sammeln kann man nur etwas, das zerstreut und zerteilt ist. Dieses Wort hier wird in der Bibel sonst für das Aufsammeln der Früchte auf dem Acker verwendet.

Sammeln kann man nur das Herumliegende und Zerstreute, das was eigentlich zusammengehört.

Und was will diese Zusage Gottes anderes heißen als:

Ich will deine Bruchstücke und Trümmer einsammeln und zusammenbringen.

Ich will das zusammenfügen, was du nicht zusammenhalten kannst, das, was dir wegbricht und was du nicht halten kannst.

Gott sammelt ein, was uns Menschen runterfällt und zu Bruch geht.

Gott sammelt nicht nur die Menschen seines zerstreuten Volkes Israel;

Gott sammelt nicht nur seine Kirche, die zerstreut ist, von den Enden der Erde;

Gott sammelt auch die Bruchstücke und Teile unseres Lebens ein.

Da wird nichts vergessen, da fällt nichts unter den Tisch. Da wird nichts verschüttet von irgendeinem Erdbeben, das Gott nicht finden könnte.

Unsere Welt kann uns ja vorkommen wie ein Schlachtfeld, auf dem so viele kaputte Dinge liegen, kaputte Menschen, kaputte Beziehungen, kaputte Liebe, kaputte Ideale.

Aber Gott geht über dieses Schlachtfeld und sammelt die kaputten Stücke ein. Nichts ist wertlos und nichts ist vergeblich.

Nicht einmal unser Kummer und unsere Traurigkeit geht verloren.

Du sammelst meine Tränen in einem Krug, heißt es von Gott. (Ps 59,6)

Kein Leid, kein zerbrochenes Herz ist jemals vergessen bei, weder im gebeutelten Staat Juda, weder im zerstörten Lissabon, noch bei uns heute.

Gott sammelt, um zusammenzufügen, um heil zu machen.

 

II.

Und dann, dann gehört zu Gottes Barmherzigkeit, dass er uns sein Angesicht zuwendet. Er zeigt sich uns, er lässt sich erkennen.

Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.

Jetzt aber will ich euch mein Angesicht zuwenden.

Das offene Angesicht Gottes ist der Ausdruck des heilsamen Kontaktes von Gott und Menschen. Er schaut uns an und wir können etwas von ihm erkennen.

Freilich kann niemand dem heiligen Gott einfach so ins Gesicht schauen.

So einfach ist es ja nicht.

Keiner hat Gott je gesehen, weiß das Johannesevangelium (1,18);

aber Gott gibt von sich etwas zu erkennen.

Sein Wille wird uns in seinen Geboten gezeigt, sein Wille zum Heil der Menschen wird von den Propheten vermittelt.

Und dann gibt Gott doch in alles übertreffender Weise sein Angesicht zu erkennen.

Wer mich sieht, sieht den Vater, sagt Jesus. In ihm können wir dem Vater bis ins Herz schauen. In ihm erkennen wir, wie es Gott mit uns meint.

Keiner hat Gott je gesehen, aber der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn uns zu erkennen gegeben.

Dieses Sichtbarwerden des Angesichts Gottes in Christus können wir gar nicht hoch genug einschätzen.

Stehen wir doch immer wieder in der Gefahr Gottes zugewandtes Angesicht nur in unserem Wohlergehen und Erfolg zu sehen.

Sicher meint das Alte Testament mit dem leuchtenden Angesicht Gottes immer auch Segen, Glück und Gesundheit.

Aber die Gleichung „Zugewandtes Angesicht = Irdisches Glück“ ist zu kurz gedacht. Sie würde in schweren Zeiten in die Verzweiflung führen.

Das Angesicht Christi hat für uns in allen Lebenslagen seine Kraft.

In den Trümmern des zerstörten Lissabon hatten alle prächtigen goldenen Bilder und Formen der Religion ihre Tragkraft verloren. Sie konnten den Menschen nicht mehr helfen, denn sie erinnerten nur zynisch an einen Zustand, der Vergangenheit war.

So kann aller Glanz und alles Gloria der Kirche seine Wirkungskraft verlieren.

Aber das Angesicht des Gekreuzigten hat seine Kraft behalten. Es kann selbst im schlimmsten Leid seine Autorität nicht verlieren. Denn dieses Angesicht kann Menschen allein trösten, die alles verloren haben.

Denn nichts und niemand kann uns ehrlicher zeigen, dass Gott an unserer Seite ist, als das Gesicht des leidenden Jesus.

Nicht das Wohlergehen zeigt die Nähe und Barmherzigkeit Gottes, sondern der Gekreuzigte, in dem uns Gott mit einem Blick anschaut, der unsere größte Tiefe mit seinem höchsten Himmel verbindet.

Und wenn wir beim Segen jeden Sonntag hören, dass der Herr sein Angesicht über uns leuchten lässt, dann sollten wir immer auch an das Angesicht Jesu denken, das auch dann noch bei uns leuchtet, wenn alle anderen Lichter ausgegangen sind.

 

III.

Und schließlich, liebe Gemeinde, zeigt sich Gottes Barmherzigkeit darin, dass er uns sein Versprechen gibt.

So habe ich geschworen, spricht der Herr, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.

Gott hat sein Versprechen gegeben, Gott hat geschworen.

Und damit hat er sich festgelegt. Er ändert seine Meinung nicht mehr. Er ist nicht wie ein Gott der Griechen heute verliebt und morgen zornig.

Er ist nicht wie ein Gott der Heiden heute gnädig und morgen verstimmt.

Und er ist auch nicht wie ein Gott der Philosophen immer gleich, ohne Gefühlsregungen, teilnahmslos.

Unser Gott hat Gefühle. Er liebt. Er eifert. Er wird zornig. Aber er legt sich fest auf seine Liebe.

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,

spricht der Herr, dein Erbarmer.

Gott hat sich festgelegt. Es gibt kein Zurück mehr für ihn. Er hat sich selbst an sein Wort gebunden.

Und in der Hingabe seines Sohnes für die Welt ist dieser Entschluss ein- für alle mal besiegelt worden – mitten in Zeit und Raum.

Jesus ist gekommen, Jesus ist gestorben. Selbst Gott könnte das nicht mehr rückgängig machen.

Daran können wir uns festhalten.

Wir können zweifeln, ob wir alles richtig machen.

Wir können unsicher sein, ob wir nach Gottes Willen leben.

Wir können fast daran verzweifeln, dass Gott bei uns Krankheiten zulässt, und Unfälle und Naturkatastrophen.

Aber können niemals daran zweifeln, dass Gott sich über uns erbarmt.

Das hat er versprochen mit allem, was er hat.

Und das gilt, über alle Erdbeben und Erschütterungen,

über alle Krankheiten und Depressionen,

über alles menschliche Versagen hinweg.

 

Gewiss, die Erdbeben unseres Lebens sprechen meistens eine viel lautere Sprache als Gottes Zusage.

Und die meisten Menschen hören auch nur schreiende Sprache der Katastrophen und Nöte dieser Welt.

Wahrscheinlich fühlen wir uns auch als Christen eher in einem Erdbeben als im sicheren Himmel.

Wir leben zwischen Trümmern. Wir stolpern über Trümmer. Wir richten selber jeden Tag Trümmer an.

Aber mitten hinein in unsere zerklüftete Landschaft ist Gottes Weizenkorn gefallen.

Es ist gefallen.

Es ist gefallen in den felsigen Grund von Golgatha.

Es ist gefallen zwischen die Trümmer und die Toten von Lissabon.

Es ist gefallen in die Trümmer und den Zerbruch deines und meines Lebens.

 

Sicher, es ist unscheinbar und klein. Es scheint unterzugehen unter den ganzen Trümmern dieser Welt.

Aber was sagt uns die Osterbotschaft anderes, als dass es dort nicht mit-zugrunde geht, mit -verloren geht,

sondern dass es aufkeimt und aufwächst und als grüner Halm in den Himmel hinauf strebt, und uns mit hinaufzieht.

Es bringt viel Frucht. Diese Frucht, das ist jede Seele, jedes Leben, das durch Jesus Christus heil wird und aus den Trümmern dieser Welt gerettet wird.

Es werden weiterhin Berge weichen und Hügel hinfallen,

es werden immer wieder die Stabilitäten unseres Lebens zerbrechen,

das ist wahr.

Aber Gottes Erbarmen, sein Herabbeugen zu uns sind genauso wahr, in Jesus Christus realisiert.

 

Alea iacta est, sagt der Römer. Die Würfel sind gefallen. Damit ist die Zukunft festgelegt.  Das Schicksal ist besiegelt.

Der Christ aber sagt: Das Weizenkorn ist gefallen. Und damit ist mein Schicksal besiegelt.

Amen.

Laetare – Pfr. Dr. Jonas