Das Bibelwort für unsere Predigt heute führt weit zurück in der Geschichte Israels, zu einer Episode, als das Volk auf seinem Weg ins Gelobte Land durch das Land der Moabiter zog.
Dort lebte Bileam, eine Art nicht-israelitischer Prophet, aber in jedem Fall ein Mann von großer geistlicher Sensibilität und Autorität. Er hatte offenbar auch ein Gespür für den einen Gott des Volkes Israel.
Und er wurde vom König der Moabiter sehr ernstgenommen und in Dienst genommen.
Dieser König der Moabiter hatte offenbar solche Angst vor den durchziehenden Israeliten, dass er sie durch Bileam wirkungsvoll verfluchen lassen wollte. Der Gott Israels war natürlich gegen eine Verfluchung seines Volkes und wollte Bileam hindern. Wie er ihn genau aufhalten wollte, hören wir nun aus dem 4. Buch Mose, Kapitel 22:
4. Mose 22, 21-35
Da stand Bileam am Morgen auf und sattelte seine Eselin und zog mit den Fürsten der Moabiter.
Aber der Zorn Gottes entbrannte darüber, dass er hinzog [um Israel zu verfluchen]. Und der Engel des Herrn trat in den Weg, um ihm zu widerstehen. Er aber ritt auf seiner Eselin, und zwei Knechte waren mit ihm.
Und die Eselin sah den Engel des Herrn auf dem Wege stehen mit einem bloßen Schwert in seiner Hand. Und die Eselin wich vom Weg ab und ging auf dem Felde; Bileam aber schlug sie, um sie wieder auf den Weg zu bringen.
Da trat der Engel des Herrn auf den Pfad zwischen den Weinbergen, wo auf beiden Seiten Mauern waren.
Und als die Eselin den Engel des Herrn sah, drängte sie sich an die Mauer und klemmte Bileam den Fuß ein an der Mauer, und er schlug sie noch mehr.
Da ging der Engel des Herrn weiter und trat an eine enge Stelle, wo kein Platz mehr war auszuweichen, weder zur Rechten noch zur Linken.
Und als die Eselin den Engel des Herrn sah, fiel sie auf die Knie unter Bileam. Da entbrannte der Zorn Bileams, und er schlug die Eselin mit dem Stecken.
Da tat der Herr der Eselin den Mund auf, und sie sprach zu Bileam: Was hab ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?
Bileam sprach zur Eselin: Weil du Mutwillen mit mir treibst!
Ach dass ich jetzt ein Schwert in der Hand hätte, ich wollte dich töten!
Die Eselin sprach zu Bileam: Bin ich nicht deine Eselin, auf der du geritten bist von jeher bis auf diesen Tag? War es je meine Art, es so mit dir zu treiben? Er sprach: Nein.
Da öffnete der Herr dem Bileam die Augen, dass er den Engel des Herrn auf dem Wege stehen sah mit einem bloßen Schwert in seiner Hand, und er neigte sich und fiel nieder auf sein Angesicht.
Und der Engel des Herrn sprach zu ihm:
Warum hast du deine Eselin nun dreimal geschlagen? Siehe, ich habe mich aufgemacht, um dir zu widerstehen; denn der Weg vor mir führt ins Verderben.
Und die Eselin hat mich gesehen und ist mir dreimal ausgewichen. Wäre sie mir nicht ausgewichen, wollte ich dich jetzt töten, die Eselin aber am Leben lassen.
Da sprach Bileam zu dem Engel des Herrn:
Ich habe gesündigt; ich hab’s ja nicht gewusst, dass du mir entgegenstandest auf dem Wege. Und nun, wenn dir’s nicht gefällt, will ich wieder umkehren.
Liebe Gemeinde,
wir lernen aus dieser uralten Geschichte nicht nur etwas über die Engel, sondern zuerst über die Tiere.
Denn die eigentliche Heldin der Geschichte ist die Eselin Bileams.
Wir sollten die Geschichte mit der sprechenden Eselin auch nicht allzu schnell ins Reich der Märchen verbannen, sondern die Weisheit dieser Episode ernstnehmen.
Die Person eines Gottesmannes mit Namen Bileam ist übrigens durch archäologische Zeugnisse auch außerhalb der Bibel bezeugt. Es handelt sich also um mehr als um ein erbauliches Märchen.
Bileam ist auf falschem Weg unterwegs. Er merkt nichts davon.
Der Engel des Herrn stellt sich ihm in den Weg. Aber er merkt nichts davon.
Seine Eselin merkt es.
Tiere haben oft ein feineres Gespür als Menschen. Tiere können Phänomene und Stimmungen wahrnehmen, von denen wir noch gar nichts ahnen.
Sie werden alle die Geschichten kennen von Tieren, die schon lange vor dem spürbaren Erdbeben unruhig wurden.
Sie werden alle wissen, dass Hunde schon lange knurren, bevor wir einen Übeltäter nahen sehen, Spuren verfolgen können und Dinge riechen, die für uns nicht wahrnehmbar sind.
Die Geschichte Bileams ist das biblische Denkmal für das feine Gespür der Tiere. Und nun soll an dieser Stelle in der Predigt nicht die Tierwelt beschrieben und bestaunt werden. Das können Sie alle mit einschlägigen Büchern und Filmen viel besser tun.
Was hier in der Predigt aber erscheinen muss, ist der Aufruf zur menschlichen Demut und Bescheidenheit gegenüber den Tieren!
Wir halten uns für die, die alles wahrnehmen können, alles messen und aufzeichnen, alles wissen und beurteilen. Wir vergessen, dass andere Kreaturen vielleicht Dinge wahrnehmen, die uns verschlossen bleiben. Wir vergessen, dass der Mensch viel, aber nicht alles weiß.
Der ungeduldige Bileam, der nicht versteht, warum seine Eselin dreimal so störrisch die Reise behindert, denkt gar nicht daran, dass sie etwas wahrnehmen könnte; und er schlägt in seiner Ungeduld dreimal auf sie ein.
Damit ist dieser zweifellos kluge und geachtete Bileam ein Bild für uns Menschen, die wir offenbar alles wissen, und so ungern auf andere hören – und auf andere Kreaturen schon gar nicht!
Wir sind ja der homo sapiens, das einzige wissende Wesen, die Intelligenz anderer Wesen kommt nicht in den Blick.
Und hier schreitet Gott ein und sagt:
Warum schlägst du dein Tier? Hast du nicht einen Augenblick lang daran gedacht, dass dein Tier etwas wahrnehmen könnte, was du nicht weißt?
Für die jüdische Lehre ist diese Bibelstelle der Bezugspunkt für eine Haltung gegen die Tierquälerei geworden. „Gott will das nicht! Und das sehen wir an Bileam Eselin.“, schreibt der jüdische Gelehrte Maimonides.
Die Geschichte von Bileam, der Eselin und dem Engel soll uns nicht zu Esoterikern machen, die die menschliche Vernunft hinter sich lassen, aber sie will uns daran erinnern, dass es mehr gibt, als wir Menschen mit unseren Augen sehen und mit unserem Urteil erfassen können.
Bileam war nicht dumm. Aber wusste nicht alles.
Die Menschheit im 21. Jahrhundert ist technisch weit entwickelt. Aber sie weiß auch nicht alles.
Es gibt Dynamiken und Mächte, die wir nicht mit unseren Augen sehen. Das zeigen uns schon die Tiere.
Es gibt Dynamiken und Mächte zwischen Himmel und Erde, die wir trotz all unserer wissenschaftlichen Leistungen nicht steuern können.
Und darum ist es gut, dass wir „von guten Mächten wunderbar geborgen“ durchs Leben gehen, wie Bonhoeffer gedichtet hat und damit die Engel meint.
Wenn wir heute die Menschen fragen würden, was denn die Aufgabe der Engel sei, dann würde als häufigste Antwort kommen:
Die Menschen beschützen.
Das ist die Wirkung von Engeln, die sich die meisten Menschen wünschen, manchmal auch Menschen, die gar nicht an Gott glauben. Aber Engel als unsichtbare Beschützer, das wünschen sie sich. Wir sprechen vom persönlichen Schutzengel. Und unter den Taufsprüchen ist einer aus Psalm 91 mit Abstand der beliebteste:
„Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“
Und wir singen ja zu Recht: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“.
Engel umgeben uns mit Gottes Geborgenheit.
Wir Theologen würden dann aber schnell eine andere Aufgabe der Engel nennen, die schon in der hebräischen oder griechischen Bezeichnung für Engel deutlich wird. „Malach“ oder „Angelos“ heißt „Bote“. Die Grundaufgabe der Engel ist es, Botschaften weiterzugeben. Die vornehmste Aufgabe der Engel ist es, den Menschen Dinge zu sagen, die sie nicht von sich aus wissen.
Nicht zufällig tauchen an den wichtigsten Stellen der Bibel Engel auf:
Auf Bethlehems Feldern sagen sie zu den Hirten: „Siehe, ich verkündige euch große Freude: Euch ist heute der Heiland geboren.“
Am leeren Grab Jesu sagen sie den Frauen: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“
Engel teilen uns Wahrheiten mit, auf die wir nicht von selbst kommen würden. Engel sagen uns, was göttliche Wahrheit ist. Engel deuten das, was wir nicht verstehen oder ganz oberflächlich deuten würden.
Wir wissen auch, dass Engel Gott loben. In Gottes Umgebung herrscht ständiger Lobgesang. Das, was wir Menschen manchmal, aber nicht immer und nicht immer aus vollem Herzen tun, das tun die Engel dauerhaft.
„Alle Engel, die dir dienen, rufen dir stets ohne Ruh ‚Heilig, heilig, heilig‘ zu.“
Engel kämpfen auch für Gott. Sie streiten gegen die bösen widergöttlichen Mächte. Wir haben in der ersten Lesung davon gehört, wie der Erzengel Michael für Gott kämpft und deshalb immer mit dem Schwert dargestellt wird.
Neben all diesen Funktionen der Engel lernen wir heute aber eine weitere Aufgabe der Engel kennen.
Engel bremsen uns, halten uns auf.
Engel stellen sich uns in den Weg.
Bileam wollte mit seiner Eselin zum König der Moabiter. Er war auf dem falschen Weg.
Und der Engel des Herrn stellt sich ihm in den Weg.
Zunächst unsichtbar für Bileam und nur spürbar für seine Eselin, aber dann auch ihm klar:
Der Engel des Herrn stand auf dem Wege mit einem bloßen Schwert in seiner Hand.
Engel können uns aufhalten, wenn wir denken, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Ich glaube, diese Funktion der Engel gefällt uns nicht so sehr.
Wir wünschen uns lieber Engel, die bei dem mitgehen, was immer wir auch tun. Aber was wären das für profillose Mächte!
Aber wir müssen manchmal gebremst werden. Manchmal muss uns jemand die Augen öffnen.
In vielen Fällen ist uns das klar:
Ein Kind, das auf die Straße rennen will, muss aufgehalten werden. Die Jugendliche, die Drogen nehmen will, muss gestoppt werden.
Der Freund, der das 6. Bier trinken und mit dem Auto heimfahren will, muss aufgehalten werden.
Ja, manchmal müssen wir gebremst werden.
Und zum Glück tut das Gott mit seinen Engeln.
Auch in unserem eigenen Wahn, im Glauben, es richtig zu machen:
Als Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte, wurde er von einem Engel gebremst!
Ja, gebremst zu werden rettet unser Leben.
Und wir können gar nicht wissen, wie oft in unserem Leben Engel uns schon unbemerkt aufgehalten, gehindert oder gebremst haben, etwas zu tun, was wir nicht überlebt oder zumindest danach bereut hätten.
Bleiben wir aufmerksam für die feinen Signale. Das unsichtbare Wirken der Engel, das feine Sensorium der Tiere und für das Wort Gottes, in dem alles Unsichtbare, Sonderbare und Geheimnisvolle gefasst ist.
In diesem Engel der den falschen Weg mit dem Schwert versperrt, in dieser mehrfachen Aufforderung zur Umkehr ist das vorabgebildet,
was der Kern der Verkündigung Jesu war:
Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Gottes Wirken ist nahe. (Mk 1,15)
Den eigenen Weg immer wieder überprüfen, die große Straße, die alle anderen gehen, immer wieder hinterfragen, sein Leben immer wieder vor dem Angesicht Jesu in Ordnung bringen: Das ist der Kern des Christenlebens.
Und das hält uns demütig.
Bileam war ein kluger und berühmter Mensch. Das hat ihn nicht davor bewahrt, auch einmal falsch zu liegen. Aber er ließ sich belehren.
Er hat seine Lektion gelernt: über das Umgehen mit seinem Tier, über das Überzeugtsein vom eigenen Weg.
Und er hat uns eine wunderbare Botschaft hinterlassen, als er später einmal in seiner – wohlgemerkt heidnischen Weisheit – voraussagte:
„Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Szepter aus Israel kommen.“ (4. Mose 24,17)
Ja, dieser Stern aus Jakob ging über Bethlehem auf. Und er setzte auch wieder nicht-israelitische Menschen in Bewegung. Und an der Krippe dieses neugeborenen Kindes kamen auch die Engel zusammen – und dabei alle ihre Funktionen, die ich gerade so fein säuberlich differenziert habe:
Sie lobten Gott. Sie verkündigten die Wahrheit. Sie hielten Herodes auf. Sie beschützen das Kind.
Hier, bei Jesus, kommt alles zusammen. Die Engel mit allen ihren Wirkungen, die Tiere und die Menschen mit all ihren Sorgen, Fehlern und Stärken.
Und hier, bei Jesus, sind sie sicher auf dem richtigen Weg – oder besser: schon angekommen: im Gelobten Land!
Amen.