Philipper 3,4–14
In der Kirche Santa Maria del Popolo, liebe Gemeinde, in der vielleicht Martin Luther während seines Aufenthalts in Rom als Augustinermönch seine morgendlichen Messen gelesen hat, befindet sich in der Cerasi-Kapelle, links vom Hauptaltar, eine überaus eindrucksvolle Darstellung der Bekehrung des Paulus. Sie stammt von Michelangelo Merisi da Caravaggio, dem berühmten Maler der frühen Barockzeit, der Ihnen sicher allen ein Begriff ist. Diese Darstellung ist, ähnlich wie bei Michelangelo in der Cappella Paolina im Vatikan, der Kreuzigung des Petrus direkt gegenübergestellt. Damit werden zwei bedeutende Momente im Leben der beiden Apostel direkt zueinander in Beziehung gesetzt. Bei Paulus ist dies nicht sein Tod, sondern eben seine Bekehrung. Paulus, dargestellt als junger Mann, liegt am Boden mit nach oben gestreckten Armen. Direkt neben ihm steht das Pferd, von dem er gefallen sein soll und das auf dem Gemälde eine auffällig betonte Position einnimmt. Im Hintergrund steht einer der Begleiter des Paulus. Ursprünglich hatte Caravaggio eine andere Version der Paulusbekehrung gemalt. Diese befindet sich in der Sammlung Odescalchi Balbi. Kürzlich war sie in der Caravaggio-Ausstellung im Palazzo Barberini zu sehen. Diese erste Fassung stellt die Bekehrung viel dramatischer dar. Paulus ist als älterer, bärtiger Mann dargestellt, der sich die Hände vor die Augen hält, von oben streckt ihm Christus, begleitet von einem Engel, die Arme entgegen, in der Bildmitte sind ein weißes Pferd, und ein mit Helm und Schild ausgerüsteter Begleiter zu sehen, dessen Lanze das Zentrum des Bildes dominiert. Die spätere, heute in der Kirche zu sehende Fassung ist deutlich sparsamer. Sie lenkt den Blick auf den vom Pferd gestürzten, am Boden liegenden Paulus und stellt sein Erlebnis ins Zentrum. Der himmlische Christus fehlt dagegen, auch die sonstige Szenerie ist eher schlicht gehalten. Das gibt uns bereits einen Hinweis auf die Bedeutung dieses Geschehens und die Geschichte seiner späteren Ausgestaltung.
Die Bekehrung des Paulus hat in den Überlieferungen über sein Leben von frühester Zeit an, nämlich schon bei ihm selbst, eine zentrale Rolle gespielt. Im Lauf der Zeit wurde sie immer weiter ausgemalt und mit Inhalten angereichert, die bei Paulus selbst noch nicht vorkommen. In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments wird zum Beispiel erzählt, Paulus sei zu Boden gestürzt, ein Licht vom Himmel habe ihn umstrahlt, so dass er sogar kurzzeitig erblindet sei, und er habe eine himmlische Stimme gehört, die sich als diejenige des erhöhten Jesus Christus herausstellte.
Später kam dann noch das Pferd dazu, von dem Paulus gestürzt worden sein soll und das auf den bildlichen Darstellungen fast immer vorkommt. Das Ereignis wurde außerdem als Bekehrung „vom Saulus zum Paulus“ interpretiert, was oft bedeuten sollte: Vom Juden Saulus zum Christen Paulus. Nichts davon findet sich bei Paulus. Pferd und Saulus-Paulus-Bekehrung haben mit dem Neuen Testament und dem Ereignis selbst nichts zu tun.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist eine Beschreibung der Wende im Leben des Paulus durch ihn selbst. Sie steht in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi und lautet folgendermaßen:
Wenn ein anderer meint, er könne sich aufs Fleisch verlassen, so könnte ich es viel mehr. Ich wurde am achten Tag beschnitten, stamme aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig.
Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ich erachte es alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, um Christus zu gewinnen und in ihm gefunden zu werden. Denn meine Gerechtigkeit habe ich nicht als die aus dem Gesetz, sondern als die durch den Glauben an Christus: die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben, um ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und gleichgestaltet zu werden seinem Tod, damit ich zur Auferstehung von den Toten gelange.
Nicht, dass ich’s schon ergriffen hätte oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. Geschwister: Ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.
Dieser Text, liebe Gemeinde, ist ein sehr eindrückliches Selbstzeugnis des Paulus über die grundlegende Wende in seinem Leben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Wende alles auf den Kopf gestellt hat, sowohl für ihn selbst als auch für alle, die ihn kannten. Wie war das möglich, was war geschehen, was war der Grund dafür, dass sich die Überzeugungen, aus denen Paulus bislang gelebt hatte, in ihr genaues Gegenteil verkehrten – und nicht nur seine Überzeugungen, sondern auch sein Lebenswandel? Es war ja nicht so, wie es in späteren Bekehrungstexten häufig geschildert wird: Da sucht ein Philosoph oder ein mit seinem Leben Unzufriedener nach der Wahrheit oder nach einem sinnerfüllten Leben und wendet sich erst dieser dann jener philosophischen Schule zu, bis er am Ende beim christlichen Glauben landet. Es war auch nicht wie bei Martin Luther, der trotz seines strengen Klosterlebens stets der Meinung war, er könne dem Willen Gottes nicht genügen. Auf der Suche nach dem gnädigen Gott entdeckte er, dass er sich Gottes Gnade nicht durch die strikte Befolgung von Frömmigkeitsregeln verdienen kann, sondern dass Gott den Menschen gerecht spricht, ohne dass er dazu vorher irgendwelche frommen „Werke“ vollbringen muss.
Bei Paulus war es anders. Paulus war weder auf der Suche nach der Wahrheit noch nach dem gnädigen Gott. Er war sich vielmehr sicher, dass er in der Gerechtigkeit, die das jüdische Gesetz fordert, untadelig war. Das sagt er in unserem Predigttext ganz ausdrücklich. Und wie sollte es auch anders sein? Die Tora war damals und ist heute Gottes Weisung für sein Volk. Wenn das jüdische Volk sich an diese Weisung hält, wird der Bund mit Gott fest bestehen und das Leben wird gelingen. Gottes Weisung ist keine Sammlung von komplizierten Vorschriften, die dem Volk Israel aufgezwungen wird, sondern Wegweiser zu einem erfüllten Leben. So hat es das jüdische Volk immer verstanden und natürlich war das auch für Jesus und für Paulus nicht anders. Wichtig ist darum, dass wir darauf achten, was der Text des Paulus über seine Lebenswende sagt, aber auch, was er nicht sagt.
Dieser Text sagt nicht, um damit zu beginnen, dass sich Paulus vom Judentum zum Christentum bekehrt hätte. Auch wenn man die Lebenswende des Paulus häufig so aufgefasst hat, wäre es gänzlich unangebracht, dieses Ereignis so zu verstehen. Paulus sagt weder in unserem Predigttext noch irgendwo anders, dass er Jude gewesen sei, sondern er sagt immer, dass er Israelit, Same Abrahams und also ein Angehöriger des jüdischen Volkes ist. Das kann auch gar nicht anders sein, denn ein „Christentum“ gab es zur Zeit des Paulus noch nicht. Es gab vielmehr Juden und Jüdinnen, die sich zu Jesus Christus bekannten, und solche, die das nicht taten. Paulus gehörte zunächst zu der zweiten Gruppe. Er lehnte das Bekenntnis zu Jesus Christus ab und betrachtete es sogar als Verrat am jüdischen Glauben. Ein Gekreuzigter als Messias – das erschien ihm geradezu als eine Gotteslästerung. Und weil Paulus ein besonders treuer Jude war, der sich für die jüdischen Überlieferungen mit aller Kraft und Überzeugung einsetzte, verfolgte er diejenigen seiner jüdischen Zeitgenossen, die sich zu einer solchen Überzeugung bekannten, mit aller Härte.
Unser Predigttext sagt weiter, dass Paulus zu einer Neubewertung seiner bisherigen Überzeugungen gelangt ist. Und zwar sagt Paulus das sehr drastisch: Vorher seien sie ihm „Gewinn“ gewesen, jetzt erachte er sie als „Schaden“ oder „Dreck“. Diese sehr scharfe Ausdrucksweise erklärt sich daher, dass sich Paulus in einer Auseinandersetzung mit anderen jüdischen Missionaren befand. Die wollten, dass sich alle, auch Nichtjuden, die zum christlichen Glauben kamen, an das jüdische Gesetz hielten. Paulus lehnte das konsequent ab. Er war überzeugt, dass mit Christus eine neue Zeit angebrochen war, in der Juden und Nichtjuden miteinander leben können, ohne dass die Nichtjuden dazu erst einmal Juden werden mussten.
Wie ist Paulus zu dieser Überzeugung gelangt? Wie wir gesehen haben, wurde die Wende in seinem Leben oftmals sehr dramatisch ausgestaltet. Bei ihm selbst klingt das anders. Es war eine neue Einsicht, die ihm Gott vermittelt hat; eine Erkenntnis, die ihm plötzlich klarmachte, dass Gott selbst sich in Christus gezeigt hat, und zwar auf eine ganz unerwartete Weise. Dass er sich gerade in dem Gekreuzigten, der nach menschlichen Maßstäben schwach und verachtenswert erschien, offenbart hat.
Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Textes: Wir wissen nicht, was genau sich im Leben des Paulus ereignet hat, wie er zu der Erkenntnis gelangt ist, die sein Leben völlig umgekrempelt hat. Was wir aber deutlich erkennen können, ist, dass es ein Geschehen war, das ihn unerwartet von außen getroffen hat. Er hat nicht in einem Studierzimmer gesessen und gegrübelt und ist schließlich zu einer neuen Erkenntnis gelangt. Vielmehr hat ihn diese Erkenntnis ganz überraschend getroffen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wie ein Licht, das plötzlich über ihn hereinbricht und ihn zu Boden fallen lässt. Die Erzählung der Apostelgeschichte und das Gemälde von Caravaggio erfassen darum etwas entscheidend Wichtiges dieses Geschehens, auch wenn es sich nicht so abgespielt hat, wie sie es beschreiben.
Was kann uns der Text des Paulus über die Wende in seinem Leben heute sagen, wie kann er uns helfen, unseren christlichen Glauben zu verstehen und zu leben? Am Eindrücklichsten ist zweifellos, wie sich durch eine umstürzende Erfahrung das ganze Leben verändern kann. Was Paulus vorher über Gott und seine Offenbarung in der Welt gedacht hatte, wurde völlig auf den Kopf gestellt. Sein Leben war fortan ein ganz anderes – und das musste er seinen Zeitgenossen erst einmal vermitteln. Das war sicher nicht einfach, viele werden ihm mit Skepsis begegnet sein. Aber Paulus war sich seiner Sache sicher. Er war fest überzeugt, dass sich Gott in dem gekreuzigten Christus auf neue Weise gezeigt hat und dass es sein ganz persönlicher Auftrag war, dies überall dort zu verkünden, wo man von Gott und Jesus Christus noch nichts wusste. Diese Offenheit für eine grundlegend neue Erfahrung, dieser unermüdliche Einsatz dafür, womit Gott ihn beauftragt hatte, sind beeindruckend. Sie zeigen uns Paulus als jemanden, der sich seiner Aufgabe vollständig und ohne jede Einschränkung widmet. Als jemanden, der sich auch von Widerständen und Rückschlägen nicht aufhalten lässt. Sie zeigt ihn als jemanden, der sich selbst eingesteht, dass er bisher falsch gelegen hat und daraus die Konsequenzen zieht. Paulus scheut sich nicht, von seiner radikalen Umkehr ohne jede Beschönigung zu sprechen und sie als denjenigen Weg zu beschreiben, auf den Gott ihn gewiesen hat.
Dieser Weg bedeutet für ihn die Gemeinschaft mit Christus. Alles Bisherige wird demgegenüber bedeutungslos. Zu Christus zu gehören, eröffnet Paulus und eröffnet auch uns eine Perspektive, die das Leben trägt. Leid und Tod gehören ausdrücklich dazu. Die neue Sicht auf das Leben, die Paulus gewonnen hat, ist davon bestimmt, dass Christus den Tod auf sich genommen hat und von Gott auferweckt und in seine Herrlichkeit eingesetzt wurde. Daran haben auch alle diejenigen Anteil, die an Christus glauben. Das ist die Gewissheit des Paulus und diese Gewissheit dürfen wir auch auf unser Leben beziehen. Die Christusgemeinschaft ist stärker als alles Leid, sie trägt uns auch in den Widrigkeiten dieses Lebens, sie lässt uns nicht allein, wenn wir krank und einsam sind, sie trägt uns sogar im Tod. Das dürfen wir mit Paulus hoffen, darauf dürfen wir mit ihm vertrauen.
Die radikale Wende im Leben des Paulus – sie war ein einschneidendes Erlebnis für ihn selbst. Sie hat seither viele beschäftigt, die sich mit diesem Geschehen beschäftigt und die versucht haben, es zu verstehen. Caravaggios Bild, auf dem der am Boden liegende, von hellem Licht umstrahlte Paulus die Hände nach oben streckt, ist ein solcher Versuch. Wir können uns unseren eigenen Reim auf dieses Ereignis machen. Was sind die prägenden Erlebnisse in unserem Leben? Worauf hoffen wir? Was gibt uns die Kraft, das Leben tagtäglich zu bestehen? Die Gemeinschaft mit Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, kann uns Gewissheit, Zuversicht und Hoffnung geben, heute, morgen und bis hin zur Auferstehung von den Toten. Amen.