Jesaja 2,1–5

„Wer Visionen hat, sollte besser zum Arzt gehen.“ Vermutlich kennen Sie dieses Zitat, liebe Gemeinde. Helmut Schmidt soll diesen Ausspruch im Wahlkampf 1980 formuliert haben. Er war ein knorriger Typ aus Norddeutschland, der nicht viel hielt von hochfliegenden Träumen und Phantasien mit wenig Anhalt am Machbaren skeptisch gegenüberstand. Schmidt war ein Pragmatiker, der Politik vor allem als Einsatz für das tatsächlich Realisierbare verstand. Damit war er in vielen Fällen sehr erfolgreich, außerdem hatte er eine klare ethische Agenda. Noch lange über sein aktives Politikerleben hinaus hat er als Elder Statesmen die Weltverhältnisse kommentiert.

Sein Spruch über Visionen als Symptom eines kranken Gemüts hat damals dennoch viele geärgert, mich auch. In der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hat man in Ost- wie in Westdeutschland genau auf das Gegenteil gesetzt, nämlich: Visionen zu entwickeln, wie eine hochgerüstete Welt, in der sich die damaligen Supermächte USA und Sowjetunion bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden und einander mit Atomwaffen bedrohten, friedlich werden können und die atomare Gefahr gebannt werden kann. Und Helmut Schmidt machte sich in manchen Kreisen zusätzlich unbeliebt, als er als Bundeskanzler den NATO-Doppelbeschluss „Aufrüsten und Verhandeln“ vehement verteidigte.

 

Unser Predigttext für den heutigen Sonntag konterkariert den flotten Spruch, mit dem Schmidt Visionen einfach beiseite wischte. Dieser Text ist eine Vision des Propheten Jesaja. Eine Friedensvision. Sie lautet folgendermaßen:

 

Dies ist’s, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!

 

Was Helmut Schmidt zu einer solchen Vision gesagt hätte, wissen wir nicht. Auf jeden Fall aber hat dieser Text in der Friedensbewegung der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt, vor allem in der damaligen DDR. Die Vision vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen wurde zum Symbol, das auf Plakaten, Aufnähern und Ansteckern erschien und sich rasend schnell verbreitete. Das Motiv war überaus raffiniert gewählt. Die Sowjetunion hatte der UNO 1959 eine Skulptur geschenkt, die das Umschmieden eines Schwertes zu einer Pflugschar plastisch darstellt. Sie steht im Garten des UNO-Hauptgebäudes in New York. Das Modell für die Skulptur befindet sich in der Tretjakow-Galerie für moderne Kunst in Moskau. Die DDR-Behörden konnten es also nicht einfach als westliche Propaganda abtun und verbieten. Dennoch waren sie sichtlich irritiert, denn das Eintreten für Frieden und Abrüstung war gegen die Staatsräson, der zufolge die sowjetische Aufrüstung nicht einfach mit der amerikanischen auf dieselbe Stufe gestellt werden durfte. Schließlich wurden die „Schwerter zu Pflugscharen“-Symbole, die nicht zuletzt in der kirchlichen, vor allem der evangelischen, Friedensbewegung weit verbreitet waren, verboten und ihr öffentliches Tragen als staatsfeindliche Haltung gebrandmarkt.

Dieser Ausflug in die noch gar nicht so lange zurückliegende Wirkungsgeschichte eines biblischen Textes zeigt, dass Visionen – gerade auch sehr konkrete politische Visionen – durchaus die Kraft haben, Zustände zu verändern, und dass sie notwendig sind, um nicht im Pragmatismus der Alltagsgeschäfte unterzugehen. Helmut Schmidt hätte das sicher nicht bestritten. Ihm ging es bei seinem pointierten Ausspruch vielmehr darum, dass man sich nicht aus dem schwierigen Geschäft der Umsetzung des Notwendigen in irgendwelche Luftschlösser flüchtet, die zwar schön aussehen mögen, mit der Realität aber nur wenig zu tun haben.

Visionen sind aber keineswegs immer eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne Träumereien. Sie können vielmehr die Beschreibung einer menschenwürdigen, lebenswerten Welt sein, eines Zustands von Mensch und Natur, wie sie von Gott geschaffen und gewollt sind. Das ist dann keine sinnlose Träumerei, sondern eine konkrete Vorstellung, an der wir unser Denken und Handeln ausrichten können.

Gerade in Situationen, in denen die Welt zerrissen ist von Krieg, Ungerechtigkeit und sinnloser Gewalt, in denen sich die Katastrophen mitunter die Hand reichen oder einander sogar überlappen, ist eine Vision von Gottes guter Schöpfung und vom Menschen als Gottes Ebenbild nötig und überlebenswichtig. Der Text beim Propheten Jesaja, der sich nahezu wortgleich auch beim Propheten Micha findet, ist eine solche Vision eines endzeitlichen Friedenszustands inmitten einer von Kriegen zerrissenen Welt. Darum ist sie hochaktuell, sie ist nahezu zeitlos, man kann sie in praktisch jede Phase der Menschheitsgeschichte stellen. Der zentrale Inhalt dessen, was Jesaja und auch Micha dem Volk Israel verkünden, lautet, dass der Gott Israels, der auf dem Zion in Jerusalem angebetet wird, sich als Herr der ganzen Welt erweisen wird. Er wird lehren, er wird seine Weisung erteilen, er wird richten – und zwar über alle Völker. Seine gerechte Ordnung wird sich durchsetzen und es wird kein Krieg mehr sein. Diese Vision der Propheten Israels ist keineswegs ein Triumphgeschrei. Es ist vielmehr eine Hoffnung und eine Gewissheit, die sie dem Volk in schwieriger Lage vor Augen stellen. Israel, das jüdische Volk, hat in seiner Geschichte seit jeher Bedrängnis, Vertreibung, Bedrohung erfahren. Bis hinein in unsere Gegenwart werden jüdische Menschen verfolgt, ausgegrenzt und beleidigt. Jüdische Einrichtungen stehen unter Polizeischutz, die Ablehnung jüdischen Lebens, sie macht sich wieder vielfältig bemerkbar, auch nach dem Holocaust und der Vernichtung so vieler jüdischer Menschenleben.

Und dennoch haben sich die Propheten Israels und viele andere jüdische Menschen, die ihnen nachgefolgt sind, nicht davon abbringen lassen, auf Gott zu hoffen, auf ihn zu vertrauen. Sie haben große Visionen entwickelt von der Gerechtigkeit Gottes, die sich auf der Erde durchsetzen und die Feinde vernichten wird. Sie waren gewiss, dass Gott sich als stärker erweisen wird als das Böse, dass der Friede größer ist als Krieg und Hass, dass am Ende Gerechtigkeit und Friede obsiegen werden.

Was für eine beeindruckende Zuversicht! Gerade dann, wenn es nicht danach aussieht, dass Friede wird und das Leid ein Ende hat, gerade dann den Blick nach vorn zu richten, die Hoffnung auf Gott zu setzen und ein großes Gemälde davon zu zeichnen, wie es sein wird in Gottes Reich, wo Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Die biblischen Texte halten diese Hoffnung immer wieder hoch; sie halten dem Volk Israel vor Augen, dass Gott treu ist, dass seine Verheißungen fest stehen und er sein Volk nicht in den Untergang gehen lassen wird.

Wie tröstlich, wie hoffungsvoll klingt das in unseren Zeiten! Manchmal mag man ja die Nachrichten kaum noch hören: die Kriegsberichte aus der Ukraine und aus Gaza; die neuen Eskapaden des US-Präsidenten; die uns alle bedrohende Veränderung des Erdklimas. Dabei haben wir die Coronazeit noch gar nicht so lange hinter uns gelassen und sehnen uns danach, dass endlich einmal wieder positive Nachrichten im Vordergrund stehen und sich die Stimmung aufhellt. Krisenmüde sind wir, haben genug von den letzten Jahren, sehnen uns danach, dass es endlich etwas ruhiger werden und die positiven Nachrichten wieder die Überhand gewinnen mögen.

Aber es hilft ja nichts. Wir können nicht einfach die Augen verschließen und so tun, als wäre alles nur halb so schlimm oder als ginge es uns nichts an. Das haben sich die Propheten Israels auch gesagt. Sie haben den Kopf nicht in den Sand gesteckt und die Augen nicht einfach verschlossen. Sie haben vielmehr dort nach Hoffnung Ausschau gehalten, von wo allein her Hilfe kommt: von Gott, der Israel erwählt hat, der es durch die Geschichte geführt und immer wieder bewahrt hat, der treu ist und dessen Verheißungen fest stehen.

Diese Zuversicht, diese Gewissheit lässt Jesaja zu seinem Volk sprechen in schwieriger Lage. Israel war bedroht, seine Existenz als eigenständiger Staat stand infrage. Jesaja aber verliert nicht den Mut. Er richtet den Blick nach ganz vorn, bis ans Ende der Geschichte. Dann werden die Völker die Weisung Gottes vernehmen und es wird Friede sein. Die Vision der friedlichen Zukunft stellt die Gegenwart unter ein neues Vorzeichen. Die Aggressoren dieser Welt, die aus Machtgier und Geltungssucht andere Länder überfallen und großes Leid über so viele Menschen bringen, sie mögen jetzt triumphieren. Wir aber vertrauen darauf, dass diese Erde von Gott geschaffen wurde und er den Menschen Weisung für ein gelingendes Leben gegeben hat. Diese Zuversicht gibt uns die Kraft, in Leid und Trauer den Blick auf das Heil nicht zu verlieren, das Gott für diese Welt bereitet hat. Für die Menschen, die unmittelbar betroffen sind von Gewalt und Vertreibung, gilt das natürlich ganz besonders. Wie sollen die Menschen in der Ukraine oder in Gaza ihre so hoffnungslos erscheinenden Situationen bestehen, wenn sie keine Zuversicht haben könnten, dass sich Gerechtigkeit und Friede am Ende als stärker erweisen werden? Die Vision, die Jesaja seinem Volk zuspricht, verheißt genau dies: Gottes wird seine heilvolle Ordnung in dieser Welt durchsetzen. Diese Vision, diese Hoffnung macht Jesaja und macht uns gewiss, dass Gott diese Welt nicht sich selbst überlässt. Dass die menschlichen Ordnungen unvollkommen sind, oft ungerecht und einseitig, aber dass sie nicht das letzte Wort haben werden. Dass diese Welt Gottes gute Schöpfung ist und es bleibt, auch wenn es gerade gar nicht danach aussieht. Aus dieser Verheißung hat das jüdische Volk in seiner Geschichte immer wieder Kraft und Zuversicht geschöpft. Aus dieser Verheißung können wir auch heute Hoffnung gewinnen, wenn es in unserem Leben dunkel wird, wir verzweifelt sind und die Zustände nur wenig Anlass zur Hoffnung zu geben scheinen. Die Verheißung des Jesaja ruft uns in Erinnerung, dass Gott das Heil der Welt und von uns Menschen will. Sie stellt uns vor Augen, dass Gottes Macht größer ist als die der Menschen. Sie lässt uns gewiss sein, dass die Gerechtigkeit über das Böse siegen wird.

Am Ende seiner Vision ruft Jesaja dazu auf, im Licht des Herrn zu wandeln. Er schaut nicht nur in die Zukunft, sondern formuliert auch Konsequenzen für das Leben im Hier und Jetzt. Das verbindet seine Rede mit den beiden Texten aus dem Neuen Testament, die wir vorhin in den Lesungen gehört haben. Auch der Epheserbrief ruft seine Adressaten dazu auf, als Kinder des Lichts zu leben. Was das bedeutet, sagt er unmittelbar im Anschluss: Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit sollen die Maßstäbe unseres Lebens sein. Das klingt naheliegend, beinahe selbstverständlich, aber es wäre schon viel gewonnen mit einer solchen Haltung. Wenn wir einander mit Güte, Nachsicht und Freundlichkeit begegnen, wird die Welt gleich etwas heller. Das Leben wird heiter und lebenswert, wenn wir aufeinander achten, Rücksicht nehmen, uns gegenseitig respektieren. Wenn wir nicht unseren eigenen Vorteil suchen, sondern nach gerechten Verhältnissen streben. Wenn unser Reden von Wahrhaftigkeit bestimmt ist und wir es ernst meinen damit, was wir einander sagen und versprechen.

Auch der Text aus dem Matthäusevangelium spricht vom Licht. Hier wird den Jüngern Jesu sogar zugesagt, dass sie das Licht der Welt sind und dass sie dieses Licht in der Welt leuchten lassen sollen. Das gute Handeln im Namen Gottes wird auch die anderen Menschen dazu bringen, Gott zu preisen. Wie es auch bei Jesaja heißt, dass die Völker zum Zion kommen und die Macht Gottes erkennen werden.

Das Licht, das wir sein sollen, das gute Handeln im Namen Gottes – es lässt die große Vision von Gottes guter Ordnung für diese Welt schon jetzt aufscheinen. Und es lässt uns spüren, dass diese Vision kein Hirngespinst ist. Wir können bereits jetzt etwas von Gottes Liebe und seiner Zuwendung zu uns Menschen Wirklichkeit werden lassen. Schwerter zu Pflugscharen – ein Symbol für den Frieden in der Welt; ein Symbol, das zu Zeiten Jesajas, zu Zeiten Jesu und zu Zeiten der Friedensbewegung Menschen inspiriert hat und das auch uns heute motivieren kann zu einem Leben im Licht der Verheißung Gottes für eine friedvolle und gerechte Welt. Amen.

 

 

8. Sonntag nach Trinitatis – Prof. Dr. Jens Schröter