Hiob 23

Liebe Gemeinde,
wo ist der Vater? Das ist die Frage, die sie sich vielleicht auch schon
gestellt haben an einem Punkt in ihrem Leben? Wo ist Gott-Vater? In
allem Schweren? Wenn Sorgen über mir zusammenschlagen wie die
Wellen des Meeres. Wenn die Diagnose unerbittlich kommt. Wenn mir
die Kraft zum Weinen ausgehen scheint, wo ist der Vater? Auch beim
Blick auf die Welt. Wo ist er? Gott scheint oft verdunkelt, abwesend zu
sein. Deus absconditus. Der verdunkelte Gott? Eine Seite Gottes. Man
ruft und ruft und ruft – und wo bleibt die Antwort?
Der gläubige Mensch bleibt von der Frage nicht verschont. „Warum
müssen denn die Frömmsten immer am meisten leiden“, fragte mich
eine junge Frau im Vikariat. Gibt es darauf eine Antwort? Ist es so? Es
straft in jedem Fall all jene Lügen, die zu allen Zeiten meinten, mit einem
frommen Leben könne man sich Schweres vom Hals halten. Die Realität
sieht anders aus. Wo ist der Vater? Der Mann, um den es gehen soll, hat
so viel verloren. Fast alles. Häuser, Besitz, Tiere, gar seine Kinder. Der
eigene Körper krank, unansehnlich.
Ja, er hat Freunde, die besuchen ihn auch – aber so richtig halten sie mit
ihm nicht aus. Statt mitzuweinen, mitzuklagen, versuchen sie sich in
Erklärungen: „Schau doch mal auf dein Leben, du hast bestimmt gegen
Gott gesündigt. Da muss doch Etwas sein, sonst ginge es dir doch nicht
so elend. Kehre um, vertrage dich mit deinem Gott, ergib dich in dein
Schicksal, dann wird es dir besser gehen“, so redet ihm der Freund noch
scheinbar gut zu, aber wie könnte er denn, ist er sich doch keiner Schuld
bewusst. Nein, er will sich nicht ergeben. Er findet keine Schuld bei sich.
Er sucht weiter. Nach Antworten. Nach Gott. Wo ist der Vater, ist sein
Programm. Hiob sein Name. Wir hören ihn im 23. Kapitel des Buches,
das nach ihm benannt ist:

Auch heute lehnt sich meine Klage auf; seine Hand drückt schwer, dass
ich seufzen muss.  3 Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner
Stätte kommen könnte!  4 So würde ich ihm das Recht darlegen und
meinen Mund mit Beweisen füllen  5 und erfahren die Reden, die er mir
antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde.  6 Würde er mit
großer Macht mit mir rechten? Nein, er selbst würde achthaben auf
mich.  7 Dort würde ein Redlicher mit ihm rechten, und für immer würde ich

entrinnen meinem Richter!  8 Aber gehe ich nach Osten, so ist er nicht da;
gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht.  9 Wirkt er im Norden, so
schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht.
10 Er aber kennt meinen Weg gut. Er prüfe mich, so will ich befunden
werden wie das Gold.  11 Denn ich hielt meinen Fuß auf seiner Bahn und
bewahrte seinen Weg und wich nicht ab  12 und übertrat nicht das Gebot
seiner Lippen und bewahrte die Reden seines Mundes bei mir.  13 Doch er
hat’s beschlossen, wer will ihm wehren? Und er macht’s, wie er will.  14 Ja,
er wird vollenden, was mir bestimmt ist, und hat noch mehr derart im
Sinn.  15 Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht, und wenn ich
darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.  16 Gott ist’s, der mein
Herz mutlos gemacht, und der Allmächtige, der mich erschreckt
hat;  17 denn nicht der Finsternis wegen muss ich schweigen, und nicht,
weil Dunkel mein Angesicht deckt.
Hiob antwortet seinem Freund Eliphas, jener, der wollte, dass Hiob sich
Gott ergibt. Dass er nachforscht, wo er Unrecht getan hat. Doch, das
wissen wir aus den vorangegangenen Kapiteln, trifft das auf Hiob nicht
zu. Der Tun-Ergehens-Zusammenhang wird hier ad absurdum geführt.
Dem Gerechten geht es nicht gut. Aber das muss es doch, oder? Ein
weit verbreitetes Konzept zur Zeit des Alten Testamentes – und auch
noch heute in manchen christlichen Kreisen. Getaugt hat es noch nie. An
der Realität gescheitert. Schon bei Hiob. Er will mit Gott verhandeln. Will
mit dem Richter seines Lebens ins Gespräch kommen. Wir scheinen gar
in einem Gerichtssaal zu sein.
Ich [würde] ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen
füllen  5 und erfahren die Reden, die er mir antworten, und vernehmen,
was er mir sagen würde. Hiob will Gott begegnen, ihm direkt sein Leid
klagen. Antwort erhalten von dem, der Himmel und Erde erschaffen hat.
Ein Frevel für seine Freunde, wer wagt es, von Angesicht zu Angesicht
mit Gott zu rechten? Hiob wagt es. Vielleicht, weil er nicht mehr viel zu
verlieren hat. Weil er schon ganz unten ist. Er möchte seine eigene
Gotteserfahrung machen, nicht auf die seiner Freunde vertrauen und
deren kluge Reden vom gerechten Gott. Es ist ja auch sein Leid, um das
es geht, nicht das seiner Freunde. Hiob will mit Gott rechten, aber er
findet ihn nicht. Er spürt Gottesferne.
Gehe ich nach Osten, so ist er nicht da; gehe ich nach Westen, so spüre
ich ihn nicht.  9 Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich
im Süden, so sehe ich ihn nicht. Gott hält sich ihm verborgen. Und hier
könnte er aussteigen. Auf seine eigene Gerechtigkeit beharren und die

Sache mit Gott sein lassen, auch das, wird ihm noch geraten werden.
Lass es doch. Was bringt es dir denn? Wo ist der Vater? Zeitlos diese
Geschichte. Was bringt mir denn Glaube, wo wirkt Gott? Viel leichter ist
es doch ohne ihn. Schau dir die Welt an – wo ist da der barmherzige,
liebende Gott? Wer kennt nicht diese Stimmen, die bestimmt nicht
weniger werden in unseren Tagen. Diese Einflüsterer gab es schon
immer. Gottesferne gilt es auszuhalten. So schwer das ist.
Aber nicht nur: Hiob setzt eine Gegenbewegung. Seine Suche. Im Osten
und im Westen, also auf der ganzen Erde sucht er Gott, im Norden und
im Süden, also in seiner Vergangenheit und in seiner Zukunft sucht er
ihn. Die Hoffnung, Gott zu finden und von ihm gerecht und gut behandelt
zu werden, gibt ihm Kraft für seine Suche. [Gott] aber kennt meinen Weg
gut. Er prüfe mich, so will ich befunden werden wie das Gold.  11 Denn ich
hielt meinen Fuß auf seiner Bahn und bewahrte seinen Weg und wich
nicht ab  12 und übertrat nicht das Gebot seiner Lippen und bewahrte die
Reden seines Mundes bei mir. Im Suchen und im Finden Gottes liegt im
Alten Testament die Verheißung von Leben und Barmherzigkeit
verborgen. Hiob sucht und sucht weiter. Das Finden wird er nicht
erzwingen können. Es muss geschenkt sein.
Sein Suchen wird begleitet von Fragen: Hat Gott ein Herz für mich? Ist
es der Gott, der Freude an Barmherzigkeit hat und nicht für immer zornig
bleibt? Hat Gott ein Herz für mich und mein Leiden? Es gibt ja so Vieles
in der Welt, das schlimm ist, gilt da mein persönliches Leiden? Mein
Tränlein? Im Text gibt es darauf keine Antwort. Zumindest nicht in
unserem heutigen Predigttext. In diesem einen Kapitel. Da muss ich auf
das Gesamte der Schrift, auf ihre Mitte, auf Jesus Christus schauen.
Dann sehe ich Gottes Herz für seine Welt. Gottes Herz für mich. Höre im
Evangelium von seinem Herz für den Zöllner. Für den Sünder. Für mich.
Das kann ich mir zusprechen lassen von Paulus in der Epistel oder von
Paul Gerhardt, bei dem es heißt: Du, Gott, Du zählst, wie oft ein Christe
wein, / und was sein Kummer sei; / kein Zähr- und Tränlein ist so klein, /
du hebst und legst es bei. (EG 324,11). Kein Tränlein ist zu klein. Also
auch nicht meine Träne. Vergossen in der stillen Kammer in schlafloser
Nacht. Gott hat darauf acht. Aber zurück zu Hiob. Wie gesagt, wenn wir
das ganze Buch Hiob lesen, wird am Ende fast alles gut. Sein Besitz
wird größer als früher, er wird gesund und stirbt schließlich satt an
Jahren. Aber so ist es nicht immer. Und auch unser Text bleibt heute
bewusst offen und im Suchen. Und ist somit ganz nah am Leben. Hiob
erschrickt vor seinem Gott, dem er sich ausgeliefert fühlt. [Gott] macht’s,
wie er will.  14 Ja, er wird vollenden, was mir bestimmt ist. Hiob könnte

verstummen. Gott ist fern. Gott will gesucht sein. Es gilt für Hiob
dranzubleiben. Er will seinen Gott nicht loslassen. So wie sein Urahn
Jakob am Jabbok, der gar mit Gott kämpfte. So wie das Volk Israel in
langen Wüstenjahren. So wie Jesus in Gethsemane. Hiob will
dranbleiben.
Er wird zum Sinnbild des Homo quaerens. Des Menschen, der nach Gott
fragt. Immer und immer wieder neu. Seine Klage führt ihn von der
Passivität ins Handeln. „Gott, du schweigst. Und ich weigere mich,
immer wieder zurückzuschweigen.“ (Christina Brudereck) Nicht
zurückschweigen. Wer klagt, handelt. Bleibt dran an seinem Gott. Ergibt
sich nicht. Vielleicht ist es das, was wir von Hiob lernen können: An Gott
dranzubleiben, auch in fernen Tagen. Mit Hiob zu klagen. In der
Hoffnung, dann auch wieder mit ihm jubeln zu können. Wie gut, dass
unser Glaube die Klage kennt. In so vielen Texten unserer Heiligen
Schrift. In Psalmen und Liedern. Wo ist der Vater? Ich wünsche ihn mir
am Grund der Klage. In meinen tiefsten Tiefen. Dort von ihm angerührt
zu werden. Aufgerichtet zu werden und Kraft für den nächsten Schritt zu
bekommen. Amen.

11. Sonntag nach Trinitatis – Pfr. Patrick Spitzenberger