Sprüche 8,22-36

Die Weisheit spricht:

Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.

Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.

Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens.

Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.

 

So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten!

Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind!

Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore!

Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.

 

Liebe Gemeinde!

Leben heißt Sinn suchen.

Wir alle verbringen unsere Tage damit, Sinn zu suchen – in dem was, wir tun, aber auch in dem, was wir erleben.

Was sich im ersten Moment so philosophisch anhört, ist eigentlich eine grundsätzliche Sache, die jedes einzelne Leben betrifft, ob wir es uns bewusst machen oder nicht.

Wenn wir morgens aufstehen, dann müssen wir einen Sinn sehen, wozu wir uns aus dem Bett quälen. Da ist der Beruf, den wir ausüben müssen, um unser Geld zu verdienen. Da sind hoffentlich Menschen, denen wir begegnen und denen wir dienen: Kinder, denen wir das Frühstück machen, Partner, die wir unterstützen, Verwandte und Freunde, um die wir uns kümmern.

Und selbst wenn man im Alter nicht mehr viel zu tun hat und die Kräfte begrenzt, dann besteht doch der Sinn darin, in Selbstdisziplin aufzustehen, den Tag in Angriff zu nehmen und das Beste aus ihm zu machen.

Wer keinen Sinn sieht, könnte morgens liegen bleiben. Wer keinen Sinn sieht, hat keine Motivation. Wer keinen Sinn sieht, ist eine traurige Kreatur.

Leben heißt Sinn suchen – und hoffentlich auch finden!

 

Wir geben unserem Leben nicht nur Sinn durch unser eigenes Tun, sondern wir entdecken auch Sinn in dem, was wir vorfinden und erleben. „Es hat bestimmt alles einen Sinn, auch wenn ich ihn jetzt noch nicht erkenne.“, sagen Menschen manchmal, wenn sie Schweres erlebt haben. Wer in seinem Schicksal und auch in manchem Leiden einen Sinn sieht, kann damit umgehen. Es wäre schlimm, wenn alles Leiden nur sinnlos wäre!

 

Wir entdecken alle Sinn in der Natur. Natur ist nicht nur schön, sondern auch ausgesprochen sinn-voll. Pflanzen wachsen nach bestimmten Regeln und Rhythmen. Die Jahreszeiten geben eine sinnvolle Ordnung vor. Tiere haben bemerkenswerte Instinkte und Fähigkeiten.

Ernährungsketten liefern Nahrung.

Man muss kein gläubiger Mensch sein, um in der vorfindlichen Natur eine sinnvolle Ordnung zu sehen. Das alles ist so angelegt, dass es funktioniert, weitergeht, sich entwickelt, überlebt.

Jedes noch so einfache Geschöpf will überleben. Darin besteht sein Sinn. Jede Spezies will sich durch Fortpflanzung die Zukunft sichern. Darin besteht der Sinn.

Naturgesetze und kosmische Ordnungen geben einen verlässlichen Rahmen vor, in dem wir leben können. Wir wissen ja bei Weitem nicht alles. Aber wir wissen doch so viel, dass wir davon ausgehen, dass es morgen so weitergeht, wie es gestern war. Und selbst wenn sich manches – wie das Klima – verändert, dann können wir uns darauf einstellen und reagieren. Und auch darin besteht schon wieder: Sinn.

 

Der Ausgangspunkt für jede Religion ist, so sagen viele, der Sinn, den wir in der vorfindlichen Natur entdecken. Egal, welchen Glauben man hat: Wenn hinter der Ordnung, hinter der Stabilität, hinter der Dynamik der Welt um uns herum eine Macht steht, dann kann man schon davor staunen, dann kann man schon auf die Idee kommen, dass hinter einem funktionierenden Universum eine funktionierende Gottheit steht.

Wir finden Sinn vor – und sobald wir denken – fragen wir nach der Ursache dieses Sinnes. Und die Antworten auf die Frage nach der Ursache können ganz unterschiedlich ausfallen.

Für die griechischen Philosophen wurde es immer klarer, dass hinter allem, was ist, ein „unbewegter Beweger“ steht.

Für den Glauben des Volkes Israel wurde es klar, dass hinter allem nur ein Gott stehen kann, ein Gott, der nicht nur anonymer Beweger ist, sondern ein Schöpfer, der sich von seinen Geschöpfen auch finden lässt.

Das Geschöpf, das in sich selbst und um sich herum Sinn findet, hat damit automatisch schon eine Ahnung von seinem Schöpfer.

„Gottes unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es mit Vernunft wahrnimmt, an seinen Werken ersehen.“

So sagt es Paulus (Röm 1,20) und meint das für alle Menschen, egal, was sie glauben oder nicht.

 

Wir Menschen suchen Sinn in dem, was wir vorfinden, ob wir das nun Universum oder Natur oder Schöpfung nennen.

Und wir finden alle in verschiedener Weise Sinn.

Sonst könnten wir nicht überleben.

Und Achtung!

Wir finden Sinn, den wir nicht gemacht haben. Wir finden Mechanismen, die wir selber nicht eingerichtet haben. Wir entdecken Dinge, über die wir nur staunen können: Die Intelligenz der Zugvögel, die Komplexität eines Facettenauges, die Überlebensfähigkeit der Pflanzen in der Wüste.

 

Das Staunen darüber ist der erste Schritt zur Religion.

Wohl gemerkt: Nicht der Glaube an einen Gott, den man sich ausdenkt, sondern der Glaube an einen Gott, den man vorfindet, weil man eben in vielem – nicht allem – aber vielem Sinn findet.

 

Und wenn in dieser Welt, die wir kennen und erleben Sinn ist, dann ist dieser Sinn doch nicht nur jetzt und heute da, sondern, dann war dieser Sinn doch auch schon immer und vorher und vor der Schöpfung da.

Das ist die Idee unseres Abschnitts aus dem Buch der Sprüche. Das ist weisheitliches, das ist nachvollziehbares Denken:

Wenn es in dieser Welt, soweit und solange wir das wahrnehmen können, Sinn gibt, dann war dieser Sinn doch sicher vorher schon da, dann geht dieser Sinn nicht in dieser Welt auf, sondern dann geht er zeitlich über diese Welt hinaus.

 

Die Weisheit spricht:

„Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.

Ich bin da von Ewigkeit her, ich war schon da, ehe die Erde war.“

Die Weisheit, der Sinn des Ganzen geht der Schöpfung schon voraus.

Das ist die große Feststellung unseres Bibelworts.

So wie ein Architekt nicht einfach anfängt, ein Gebäude zu bauen, sondern zuerst einen Plan entwirft, so hat der Schöpfer vor der Schöpfung schon deren Sinn erfasst.

So wie ein Bildhauer nicht einfach loshämmert, sondern in seinem Kopf schon ein konkretes Bild von seinem Kunstwerk hat, so hatte Gott schon vor der Schöpfung seinen Plan.

Das ist doch alles kein Zufall. Unser Leben ist kein Zufall.

Wer das Auge eines Adlers analysiert, und dann sagt „Das ist Zufall.“, bleibt uns doch schuldig, woher der Sinn, das Funktionieren und die Zielrichtung der Evolution kommen.

Schon das Alte Testament sagt: Da gibt es überall einen zusammenhängenden Sinn. Und dieser Sinn geht nicht auf in der Schöpfung selbst; der steckt auch nicht in den Geschöpfen selber drin, sondern der geht weit über die Schöpfung hinaus. Dieser Sinn umschließt die ganze Schöpfung und gibt ihr Halt.

Gott hat die ganze Welt in seiner Hand, sagen wir oft bildlich.

Aber das ist gemeint: Das ganze Universum ist nicht nur einfach da, sondern es ist umfasst – zeitlich, räumlich und logisch – von einer noch größeren Realität, die Sinn hat, eines Gottes, der die Weisheit nicht für sich selbst behält, sondern aus sich heraussetzt, eines Gottes, der die Weisheit gebiert wie ein Kind:

Deshalb spricht diese Weisheit wie ein kleines Kind und sagt von sich:

„Als Gott die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“

 

Ein gewagtes Bild:

Die Weisheit, der Logos, der Sinn als kleines Kind, das vor Gott auf dem Boden spielt.

Ein gewagtes, aber zutreffendes Bild, das die Kirche später staunend und dankbar aufnahm, als sie Jesus als Gottes Sohn verstehen und einordnen musste.

 

„Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren.“, sagt das Buch der Sprüche.

„Am Anfang schon war der Logos bei Gott.“, sagt das Johannesevangelium.

„Aus dem Vater geboren vor aller Zeit.“, sagt das Glaubensbekenntnis von Nizäa vor genau 1700 Jahren.

Das ist alles keine neue, verrückte Erfindung, sondern das ist die Umsetzung dessen, dass der Sinn nicht nur heute und jetzt da ist, sondern seit aller Zeit und in alle Zeit.

 

Wir haben heute gesehen, dass das Alte Testament die Weisheit Gott zeitlich nach vor den Anfang zurückführt und nach hinten ausdehnt.

Das Neue Testament wird diesen Sinn in alle Zukunft hin ausdehnen.

 

Wenn diese Schöpfung Sinn macht, und wenn dieser Sinn schon vor diesem Leben da war, dann wird er logischerweise auch nach dieser Welt und diesem Leben noch da sein.

Und wenn Jesus mit diesem Sinn identisch ist, dann kann er ja nicht tot sein, sondern dann muss er von Ewigkeit zu Ewigkeit leben.

So kann man Auferstehung denken.

Sinn kann nicht sterben. Ein Leben kann aufhören. Die Situation kann sich ändern. Aber was heute wahr ist, das ist auch morgen noch wahr.

Was unter Papst Franziskus wahr und richtig war, das wird auch unter seinem Nachfolger noch wahr und richtig sein.

Personen wechseln, so bedeutend sie auch sind, aber Prinzipien bleiben.

Wenn der Sinn dieser Welt sich mit jeder Epoche oder – noch schlimmer mit jedem Machthaber – ändern würde, dann wären wir Blätter im Wind.

Aber wir wissen es alle: Das, was die Welt im Innersten zusammenhält, das ist ewig, das kann nicht abhängig sein von Moden und Stimmungen, nicht einmal von Kriegen, Krankheiten und Katastrophen.

 

Und im Glauben wollen wir nichts anderes tun, als auf diesen roten Faden zu achten und zu bauen.

Im Glauben wollen wir nicht anderes tun, als unser Leben unterzubringen auf dieser ewigen Linie.

Und als Christen sollen wir eigentlich nichts anderes bekennen, als das Jesus von Nazareth diese ewige Linie ist:

Die Linie, die sich durchzieht durch diese verrückte Welt mit ihren Rätseln und Katastrophen,

die Linie, die sich durchzieht durch mein verrücktes Leben mit allen seinen Sternstunden und Tiefpunkten,

die Linie, die sich durchzieht durch all die Fragen, die ich nicht beantworten kann, aber die mir doch eine Richtung zeigt.

 

Es gibt einen roten Faden, es gibt eine Richtung, auch wenn der volle Sinn im Nebel liegt.

Es macht Sinn, weiterzumachen, auch wenn diesen Sinn gerade nicht spüre im Umgang mit den Menschen, die mich jeden Tag nerven, die ich aber doch liebe,

mit der Welt, deren Politik ich nicht mehr begreife, in der ich aber doch leben muss,

in dem Klima, das mir Sorgen macht, aber das ich doch nicht ändern kann,

in dem Körper, der mir immer wieder seine Grenzen setzt, aus dem ich aber doch nicht rauskomme.

Es gibt einen Sinn. Der will sich nur finden lassen.

Es gibt eine ewige Weisheit, und die sagt:

„Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn.“

 

Liebe Gemeinde!

Was heute so philosophisch daherkam, ist eigentlich ganz einfach:

Wenn es in dieser Welt heute und hier Sinn gibt, dann gab es diesen Sinn auch schon vorher, und dann gibt es ihn auch noch nachher.

Es ist so, als ob man einen Zollstock nach vorne und nach hinten unendlich verlängert.

Dazu muss man kein Philosoph sein, nicht einmal ein besonders religiöser Mensch.

Eines aber muss man sein: Ein Sinn-Sucher.

Und das sind wir doch irgendwie alle. Amen.

Jubilate – Pfr. Dr. Jonas