Matthäus 9,35–10,10

Hätten Sie es sich getraut, liebe Gemeinde? Hätten Sie so einfach vertraut? Es war ein Wagnis, eine Zumutung, eine Herausforderung.

Der heutige 5. Sonntag nach Trinitatis ist genau dies: eine Herausforderung, eine Zumutung ein Wagnis. Er fordert uns dazu heraus, der Aufforderung Gottes, uns auf den Weg zu machen, zu vertrauen, ihr Folge zu leisten. Er mutet uns zu, darauf zu vertrauen, dass gelingen wird, was wir im Vertrauen auf Gott beginnen. Er ermutigt uns, uns aufzumachen, den neuen Wegen zu vertrauen, auf die Gott uns weist. Wir werden das nachher auch singen, in dem hoffnungsfrohen Lied, das der Jenaer Theologe Klaus-Peter Hertzsch, bei dem ich vor langer Zeit selbst noch studiert habe, im Jahr 1989 für eine Hochzeit in Eisenach geschrieben hat. Hertzsch, so erzählte er damals, hatte am Abend vor der Hochzeit überlegt, was er zur Feier am nächsten Tag beitragen könne. Und so setzte er sich hin und schrieb dieses Lied. Am nächsten Morgen wurde es für die Gäste vervielfältigt, was damals aufwändiger war, als wir uns das heute vorstellen können, und dann im Gottesdienst gesungen. Als nur wenige Monate später die Berliner Mauer fiel und die innerdeutsche Grenze geöffnet wurde, bekam das Lied von den neuen Wegen, auf die Gott uns weist, plötzlich noch eine ganz andere, neue Bedeutung.

Dieses Lied bringt viel von dem zum Ausdruck, worum es am heutigen Sonntag geht: Leben heißt sich regen, leben heißt wandern, ausziehen in das gelobte Land, darauf vertrauen, dass es hell und weit sein wird, leben heißt, ein Segen zu sein für Gottes Erde. Wie Abraham, der sich aufgemacht hat in ein Land, das Gott ihm zeigen wollte und von dem er weder eine Ahnung hatte, wo es liegt, noch, wie es aussieht. Wie die Jünger, die auf die Aufforderung Jesu hin noch einmal das Netz auswarfen, obwohl sie es schon die ganze Nacht vergeblich versucht hatten. Diese biblischen Geschichten führen uns vor Augen, was gemeint ist mit dem Vertrauen auf Gott und auf Jesus Christus. Das ist auch beim Predigttext der Fall. Er steht im Matthäusevangelium und erzählt davon, wie Jesus seine Jünger ausgesandt hat, damit sie in seinem Namen wirken. Hören wir diesen Text.

 

35 Und Jesus durchzog alle Städte und die Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und verkündigte das Evangelium vom Reich, er heilte jede Krankheit und jede Schwäche. 36 Als er das Volk sah, erbarmte er sich seiner, denn sie waren geängstigt und bedrückt wie Schafe, die keinen Hirten haben (Num 27,17). 37 Da sagte er seinen Jüngern: „Die Ernte ist groß, aber die Arbeiter sind wenige. 38 Bittet darum den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte aussende.

10,1 Und nachdem er seine zwölf Jünger zu sich gerufen hatte, gab er ihnen Vollmacht über die unreinen Geister, dass sie sie austreiben und jede Krankheit und jede Schwäche heilen konnten. 2 Die Namen der zwölf Apostel sind diese: Zuerst Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, sein Bruder, und Jakobus, der Sohn des Zebedäus und Johannes, sein Bruder, 3 Philippus und Bartholomäus, Thomas und Matthäus, der Zöllner, Jakobus, der Sohn des Alphäus und Thaddäus, 4 Simon Kananaios und Judas Iskariot, der ihn auch auslieferte.

5 Diese Zwölf sandte Jesus aus, nachdem er sie unterwiesen hatte, und sagte: „Geht nicht auf einen Weg zu den Heiden und in eine Stadt der Samaritaner geht nicht hinein! 6 Geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel! 7 Geht hin und verkündigt und sagt: Das Himmelreich ist nahegekommen. 8 Kranke heilt, Tote weckt auf, Aussätzige reinigt, Dämonen treibt aus. Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt! 9 Ihr sollt nicht Gold oder Silber oder Kupfer in euren Gürteln haben, 10 weder einen Beutel für unterwegs noch zwei Untergewänder noch Sandalen noch einen Stock – denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert.“

 

Wir könnten es uns leicht machen mit dieser Episode, liebe Gemeinde. Wir könnten sagen: Alles stehen und liegen lassen und einfach losgehen – das mag ja für galiläische Fischer gepasst haben, die in ihre Nachbardörfer im ländlichen Galiläa geschickt wurden, gerade mal ein paar Kilometer weit von ihrem Heimatdorf entfernt. Sie kannten sich aus, sie wussten, was sie erwarten würde, so gewaltig kann der Aufbruch nicht gewesen sein. Und außerdem: Zu unserem Leben in einer modernen Großstadt wie Rom im 21. Jahrhundert will das nur wenig passen. Und es passt auch nicht in unsere komplexe Welt mit ihren unübersichtlichen Strukturen und modernen Kommunikationsformen. Nur mit einem Beutel losziehen, ohne Geld und Reiseausrüstung – das mag für die Jünger Jesu eine Form gewesen sein, die Nachfolge Jesu zu praktizieren, für uns heute taugt das nicht.

Und es ist ja nicht zu bestreiten: Die Lebensbedingungen der Jünger Jesu waren ganz andere als diejenigen von uns heute. Das fängt schon bei sehr konkreten Fragen wie Verdienst und Verpflegung an und hört bei der Rolle des Christentums in einem Land wie Italien oder Deutschland noch längst nicht auf. Was die „Mission“ war, auf die die Jünger von Jesus geschickt wurden, kann man darum nicht einfach gleichsetzen damit, wie wir unseren christlichen Glauben in der heutigen Welt leben und bezeugen sollen.

Das alles ist richtig. Und dennoch würden wir es uns zu einfach machen, wenn wir den Text aus dem Matthäusevangelium als eine Erzählung aus vergangenen Zeiten abtun würden, die mit uns selbst nichts zu tun hat. Darauf kann uns schon eine einfache Beobachtung führen: Dieser Text ist aufbewahrt und niedergeschrieben worden, obwohl die Christen sehr bald schon nicht mehr in derselben Weise gelebt haben wie die ersten Jünger Jesu. Es waren christliche Gemeinden entstanden, viele davon in Städten, die auch nicht so lebten wie die Fischer in Galiläa. Trotzdem hat man sich an die Aussendung der Jünger durch Jesus erinnert, hat sie weitergegeben als eine wichtige Erzählung vom Anfang des christlichen Glaubens, die auch für spätere Zeiten noch von Bedeutung ist. Darum steht sie heute im Neuen Testament. Was aber hat man in ihr gesehen, warum war sie den Christen wichtig, warum kann sie uns auch heute noch etwas sagen über die Nachfolge Jesu Christi und die Gestalt christlicher Gemeinde?

Ein Grund dafür, warum uns diese Geschichte nicht gleichgültig sein kann, liegt darin, dass unser christlicher Glaube schon immer davon gelebt hat, dass sich Menschen für ihn begeistern und in Anspruch nehmen lassen. Der Glaube will gelebt und gestaltet, er will verkündigt und in die Welt getragen werden. Darum werden die Jünger von Jesus ausdrücklich damit beauftragt, sein eigenes Wirken fortzusetzen. Auch sie sollen Kranke gesund machen und Aussätzige rein, Dämonen austreiben, Tote erwecken und den Anbruch des Gottesreichs verkünden. Das klingt gewaltig und das ist es auch. Eine Herausforderung, eine Zumutung. Die machtvollen Taten Jesu sollen nicht einfach vorbei sein, wenn er nicht mehr da ist. Sie sollen weiterwirken durch die, die sich mit Jesus auf den Weg machen, die daran glauben, dass in ihm das Heil Gottes zu uns Menschen gekommen ist und dass dieses Heil die Welt erneuern kann.

Dass wir schnell an unsere Grenzen kommen, wenn wir versuchen würden, Tote zu erwecken oder Dämonen auszutreiben, braucht uns dabei nicht zu irritieren. Das wird den Jüngern Jesu und vielen, die den Text vor uns gelesen haben, nicht anders gegangen sein. Der Anspruch ist hoch und es erwartet niemand, dass wir gleich mit dem Schwersten oder gar Unmöglichen beginnen. Aber man kann es ja auch so sehen: Da wird den Jüngern Jesu und allen, die sich nach ihnen in die Nachfolge Jesu begeben, sehr viel zugetraut. Der Ruf Jesu in seine Nachfolge ist zuerst und vor allem der Zuspruch von Vertrauen, die Zusage von Kraft und die Ermutigung zum Aufbruch, um unseren Glauben zu verbreiten. Vertraut den neuen Wegen, auf die ihr von Jesus geschickt werdet. Lasst euch darauf ein, in seinem Namen zu wirken. Verbreitet das Evangelium, heilt die Menschen an Leib und Seele, lasst euer Licht leuchten in der Welt, damit die Menschen es sehen und Gott preisen!

Engagement, Zuversicht und Freude – das macht unseren Glauben aus, steckt an, verbreitet sich. Wir merken das schon, wenn wir bei einem fröhlichen Glaubensfest zusammenkommen, hier im Pfarrgarten oder anderswo. Wenn Menschen dazukommen und erleben, wie der Glaube verbindet, wie er befreit und fröhlich macht, dann werden sie mit hineingenommen in die Gemeinschaft. Das können wir in der Tradition desjenigen Auftrags sehen, mit dem Jesus seine Jünger losgeschickt hat, auch wenn wir dazu nicht ohne Geld und Proviant umherziehen müssen.

Aber natürlich ist es nicht immer ein fröhliches Fest. Glaube ist auch die Herausforderung, Neues zu wagen, sich auf ungewohnte Wege zu begeben, uns etwas vorzunehmen, von dem wir noch nicht so genau wissen, wohin es führen wird. Wichtige Weichenstellungen im persönlichen Lebensweg gehören ebenso dazu wie solche, die das Leben unserer Gemeinde betreffen oder die Frage, worauf der christliche Glaube in der heutigen Zeit sein Augenmerk lenken, wo christliche Kirche Schwerpunkte setzen soll bei ihrem Wirken in der Welt. Die Mission, auf die Jesus seine Jünger geschickt hat – sie stellt sich heute zum Beispiel als die Herausforderung dar, unseren christlichen Glauben zu bezeugen in einer Welt, in der es wieder Kriege gibt, in der Menschen verfolgt werden, ihr Obdach verlieren und sie vertrieben werden. Sie stellt sich als die Herausforderung in einer Welt, in der das Einstehen für eine Überzeugung oft weniger wert zu sein scheint als die schnelllebige mitunter etwas aufgeregt wirkende Kommunikation über alle möglichen digitalen Kanäle. Sie stellt sich in einer Welt, in der der christliche Glaube nur noch eine unter mehreren Optionen ist, denen Menschen sich zuwenden und hier in Europa nicht immer als die erste und attraktivste dieser Möglichkeiten erscheint.

Die Aussendung der Jünger Jesu in die galiläischen Dörfer findet so ihre Entsprechung in unserer heutigen Lebenswelt. Wir brauchen dafür nicht einmal lange zu suchen. Im Zentrum der Mission, auf die Jesus seine Jünger geschickt hat, steht die Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches. Gott kommt den Menschen nahe, er will sie heilen und ihnen Frieden bringen. Im Wirken Jesu haben das die Menschen ganz unmittelbar erfahren. Davon ist eine große Kraft ausgegangen und die Motivation, davon zu erzählen, es weiterzutragen, andere daran teilhaben zu lassen. Zur Herausforderung und Zumutung, die mit der Aussendung der Jünger verbunden ist, gehört darum auch die Freude über das Neue und Helle, das Frohe und Befreiende, das in der Botschaft von der anbrechenden Herrschaft Gottes liegt, die diese Welt verändern kann.

In dem Predigttext klingt noch ein weiteres Thema an. Jesus sendet seine Jünger aus als Arbeiter in die Ernte, wie es in dem Text heißt, weil er sein Volk Israel bedrängt und verängstigt darniederliegen sieht. Die Jünger werden auch ausdrücklich angewiesen, nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ zu gehen, nicht zu den Heiden, also zu den anderen Völkern. Das macht deutlich, dass Jesus gekommen ist, um sein Volk Israel zu heilen, ihm die Nähe Gottes zu verkünden. Der Predigttext für den heutigen Sonntag macht die enge Bindung des christlichen Glaubens an den jüdischen Glauben, seine Schriften und Traditionen, ganz deutlich. Der christliche Glaube ist dann bald Wege gegangen, die ihn auch zu Menschen aus anderen Völkern geführt haben. Das wird auch im Matthäusevangelium deutlich, wenn Jesus am Ende die Jünger ausdrücklich dazu beauftragt, zu allen Völkern zu gehen, sie zu lehren und zu taufen. Gerade im Matthäusevangelium wird aber auch erkennbar, dass dieser Weg ein neuer Weg war, ein Wagnis, bei dem man nicht so genau wusste, was dabei herauskommen sollte. Nichtjüdische Menschen mussten erst mit dem Glauben an Gott vertraut gemacht werden, den Jüdinnen und Juden natürlich kannten. Wie das gehen sollte, war an den Anfängen keineswegs klar. Es musste erst herausgefunden werden. Neue Wege mussten gegangen werden, es war ein Wagnis, eine Herausforderung, eine Zumutung. Das ist es auch heute, wenn wir unseren Glauben in einer Welt bezeugen, die immer weniger christlich geprägt ist.

Wenn wir diesen Text heute hören und darüber nachdenken, dann steht uns auch vor Augen, dass die Geschichte von Christentum und Judentum von viel Leid und Missverstehen geprägt gewesen ist. Die Herausforderung für die Jünger Jesu, die natürlich selbst Juden waren und den Glauben an Jesus Christus in diesem Kontext verstanden, ist heute die Herausforderung, christlichen Glauben so zur Sprache zu bringen und zu leben, dass seine bleibende Verbundenheit mit den jüdischen Schriften und Traditionen dabei bewahrt wird. Auch auf diesen Weg will uns der Predigttext führen. Amen.

5. Sonntag nach Trinitatis – Prof. Dr. Jens Schröter