Warum wenden wir uns der Natur zu, liebe Gemeinde?
Oder anders gefragt: Warum feiern wir den Gottesdienst heute – wie in langer Tradition immer einmal im Jahr – hier im Garten? Warum haben wir einen Garten mit biblischen Pflanzen? Warum ist die Natur ein eigenes Thema unseres Glaubens und dieser Predigt?
Wie kommt es eigentlich zu dieser Aufmerksamkeit für die Schöpfung innerhalb des Christentums?
Haben wir uns das schon einmal gefragt?
Und wenn nicht, dann ist heute doch einmal Zeit, uns diese Frage zu stellen und hoffentlich auch zu beantworten.
Denn an der richtigen Antwort auf diese Frage hängt sehr viel!
Warum wenden wir uns der Natur zu?
Ist es die Ästhetik?
Ist es einfach nur die Schönheit der Natur, die uns als empfindsame Menschen anzieht? Ist es nicht einfach schön, im Grünen zu sein, hohe Bäume oder blühende Blumen anzuschauen?
Machen wir Christen nicht einfach das, was alle Menschen empfinden, wenn sie eine rote Rose, ein niedliches Tier oder einen romantischen Sonnenuntergang sehen? Staunen und Genießen.
Geben wir als Christen mit unserer Schöpfungsbegeisterung nicht einfach nur der Anziehungskraft schöner Dinge nach?
„Geh aus mein Herz, und suche Freud“: Das wohl bekannteste evangelische Natur-Betrachtungs-Lied von Paul Gerhardt gibt es ja unumwunden zu:
Es geht um die reine Lust und Freude an der Schönheit der Natur:
„und siehe, wie sie dir und mir sich ausgeschmücket haben“.
Ist das so etwas wie ein christlicher Voyeurismus? Die religiös verbrämte Lust daran, schöne Dinge einfach anzuschauen?
Ganz so einfach ist es ja nicht, denn Paul Gerhardt schiebt gleich einen Gedanken nach, der genauso kritisch wie klug ist:
„Narzissus und die Tulipan: Die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.“
Die einfache Kreatur kann schöner und feiner und edler sein als alles, was der Mensch gemacht hat.
Wir können zwar Wolkenkratzer bauen und zum Mond fliegen, aber die Faszination einer einfachen Mohnblume im Wind übertreffen wir damit nicht. Wir können unsern Kindern immer mehr interaktive und intelligente Spiele vorsetzen, aber die Faszination durch einen kleinen Esel, den man Streicheln kann, oder ein Pony, auf dem man reiten kann, übertreffen wir damit nicht.
Die nicht von Menschen gemachte Natur ist immer noch edler, reiner und faszinierender als das, was wir als Künstler, Techniker und Denker herstellen.
Viele Kreaturen sind und bleiben schöner als manches Machwerk der Menschen!
„Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen (Mt 6,28f).“
Was Jesus in der Bergpredigt gesagt hat, bleibt aktuell, und es kann uns ausgesprochen kreative Menschen immer wieder ein bisschen Demut lehren, dass alles, was wir erschaffen, nicht der alleinige Maßstab der Wahren, Guten und Schönen ist.
Aber nochmal: Warum wenden wir uns der Natur zu?
Die fast überall in der Kirche vorhandene Schöpfungsbegeisterung war ja nicht immer da. Sie ist erst im Zuge der Umweltkrise vor wenigen Jahrzehnten entstanden. Erst die schmerzhafte Wahrnehmung, dass Natur nicht einfach nur schön anzuschauen ist, sondern auch begrenzt und bedroht, hat dazu geführt, dass die Kirche sich bewusst die Natur zum Thema macht. Das ist alles richtig und geboten.
Aber manchmal habe ich den Eindruck, die Kirche ist hier einfach nur auf einen Zug aufgesprungen, der ohnehin gesellschaftlich fährt.
Dass Artenvielfalt und Klima bedroht sind und Ressourcen begrenzt, das sagen inzwischen eigentlich alle gesellschaftlichen Kräfte und übertreffen sich dabei teilweise in Aktionismus und Radikalität.
Ist unsere christliche Sensibilität für die Natur nur Anteilnahme dieser Mode? Alle schreien nach Klimaschutz – also auch die Kirche?
Eigentlich ein bisschen peinlich. Denn wir hätten es schon immer besser wissen können. Unser uralter biblischer Glaube spricht schon immer von der Verantwortung für die anderen Geschöpfe. Unser Glaube an den dreieinigen Gott spricht schon immer vom „Schöpfer des Himmels und der Erde“. Dass die Kirchen erst von der allgemeinen Umweltschutzbewegung des letzten Jahrhunderts sensibilisiert worden sind, und dass der Beitrag der Kirchen heute oft nur im Mitschreien der allgemeinen Maximen besteht, ist kein Ruhmesblatt. Wir hätten es schon immer wissen müssen, dass wir nicht allein auf dieser Erde leben. Und der christliche Beitrag zur ökologischen Diskussion der Gegenwart sollte nicht nur eine Wiederholung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse oder politischer Forderungen sein, sondern ein wahrhaft religiöser Beitrag – also eine Information, die unsere Einstellung rückbindet an den Grund unseres Daseins und den Sinn des Ganzen, also das, was wir traditionell „Gott“ nennen.
„Religion“ heißt wörtlich „Rückbindung“. Wie oft bleiben wir als Kirche diese Rückbindung, diese gedankliche Verankerung unseres Handelns an den Herrn des Ganzen schuldig – nicht nur bei ökologischen Themen?
Wenn wir als Kirche nur das sagen, was andere auch und besser sagen, dann machen wir uns selbst überflüssig. Wir müssten eigentlich „Religion“ bieten, „Rückbindung“, Erklärung, tiefe und bleibende Motivation für das, was heute zu tun ist.
Aber die Frage war ja: Warum wenden wir uns der Natur zu?
Aus ästhetischen Gründen, aus politischen Gründen – oder aber: weil wir als religiöse Menschen ein bisschen verrückt sind?
Die christliche Begeisterung für die Natur hat immer auch etwas Irrationales an sich.
Spätestens jetzt müssen Sie auf das Bild auf Ihrem Liedblatt schauen, das Franziskus von Assisi darstellt, wie er den Vögeln predigt. Das bekannte Bild findet sich in der Unterkirche von S. Francesco in Assisi.
Der Heilige wendet sich der Schöpfung zu, nicht nur betrachtend, sondern predigend. Eine rührende und sympathische Episode, aber doch auch ein bisschen weltfremd. Was haben die Vögel wohl verstanden?
Franziskus ist nett, aber doch wohl auch entrückt, wenn er den Vögeln eine Predigt hält!
Die christliche Begeisterung für die Natur hat immer auch etwas Irrationales an sich.
Sind wir Christen in den Augen der Welt nicht alle auch gutmütige Spinner, die an viele sonderbare Dinge glauben: Eine Arche Noah mit allen Tieren, einen Turm von Babel, der bis zum Himmel reicht, eine Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria und seine Auferstehung aus dem Grab. Man müsste nur noch den Weihnachtsmann hinzufügen und dann hat man das Bild, das wohl viele Zeitgenossen von uns Christen haben: Menschen, die einige verrückte Vorstellungen haben.
Ist unsere christliche Zuwendung zur Natur nicht auch ein bisschen verrückt? Werden Pflanzen und Tiere nicht vermenschlicht und falsch gelesen, wenn man mit ihnen spricht und sie allzu ernstnimmt?
Aber Franziskus erscheint hier nicht nur als Extremfall christlicher Zuwendung zur Natur, sondern er bietet uns auch die Lösung für unsere Ausgangsfrage.
Der Franziskanertheologe Thomas Freidel sieht den Grund für die berühmte Vogelpredigt nicht in irgendeiner Naturbegeisterung, sondern in einem ganz konkreten biblischen Auftrag. Franziskus trägt auf dem Bild nicht zufällig die Bibel als Buch unter dem Arm.
Franziskus predigt den Vögeln, weil Jesus es so befohlen hat.
„Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur. (Mk 16,15)“, sagte der Auferstandene zu seinen Nachfolgern.
„Aller Kreatur“ steht da am Ende des Markusevangeliums und nicht etwa wie bei Matthäus „allen Völkern“.
Franziskus nahm das wörtlich.
Im Hintergrund steht offenbar die Überzeugung, dass das Evangelium, also die Zuwendung Gottes in Jesus, nicht nur den Menschen, sondern allen Kreaturen gilt. Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen. Ob das nun im Falle von Tieren und Pflanzen mit Worten geschehen muss, können wir offenlassen. Aber offenbar gilt die gute Botschaft von der Erlösung allen Kreaturen, die Gott geschaffen hat.
Dass das nicht nur ein gewagter einzelner Gedanke des Markus-Schlusses ist, zeigt der Apostel Paulus im Römerbrief, wo er sagt:
Die ganze Schöpfung seufzt und wartet auf Erlösung, und die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8, 21f).
Erlösung ist nicht reserviert für die Kinder Gottes, sondern sie ist vorgesehen für die ganze Kreatur.
Und wir – und nicht nur Franziskus – sollten das auch – nicht nur den Vögeln – sondern allen Kreaturen predigen, vermitteln, bezeugen – durch unser Tun und Lassen.
Und damit sind wir beim Grund für unsere Zuwendung zur Natur und zu den nichtmenschlichen Geschöpfen. Wir tun das nicht aus Romantik, Ästhetik oder verspielter Spinnerei.
Wir tun das, weil der Herr, unser Gott, sich seinen Geschöpfen zuwendet.
Wir tun das, weil wir an der Zuwendung Gottes an seiner Welt teilnehmen.
Gott wendet sich seit ihrer Entstehung der Welt zu. Das ist sein Wesen.
Und jetzt müssen wir uns das zweite Bild in Ihrem Liedblatt anschauen.
Es stammt auch aus S. Francesco in Assisi, diesmal aus der Oberkirche.
Es ist von Jacopo Torriti und stellt die Erschaffung der Welt dar – und zwar in bemerkenswerter Weise:
Gott handelt nicht von oben herab, irgendwie vom Himmel her, sondern er handelt aus seiner göttlichen Sphäre heraus, wie aus einem Fenster.
Wir sehen hier, dass der Himmel nicht einfach bloß der Raum über den Wolken ist, sondern die ganz andere Dimension, in der Gott mit seinen Engeln existiert.
Wir sehen hier, dass der Himmel nicht einfach nur hoch über der Erde ist, sondern „mitten unter euch (Lk 17,21)“
Wir sehen, dass das Mittelalter nicht nur naiv und unwissenschaftlich dachte, sondern durchaus tiefer.
Wir sehen, dass Gottvater hier ganz in der Gestalt Jesu dargestellt ist, weil des Gebot respektiert wird, sich kein Bild von ihm zu machen, und weil ernstgenommen ist, dass Jesus das Angesicht des Vaters geoffenbart hat.
Und dann beeindruckt die Haltung des Schöpfers. Er ist kein Macher und kein Redner.
Sein Schöpfungshandeln besteht in reiner Zuwendung.
Oder andersherum gesagt: Seine Zuwendung ist es, die Leben entstehen lässt und möglich macht.
Seine Liebe ist es, die Leben erträglich und sinnvoll macht.
Er wendet sich der Welt zu. Er lehnt sich heraus aus seiner göttlichen ewigen Sphäre und alles, was ist, entsteht:
Die Gestirne am Himmel, die Berge und das Wasser, die Fische im Meer und an Land,
der Mensch, der schon eingehüllt ist in den mandelförmigen Heiligenschein, als sei seine Würde und seine Erlösung schon vorgezeichnet.
Über dem Wasser schwebt der Heilige Geist, wie die Bibel ganz am Anfang sagt. Dargestellt ist er so, wie der Geist bei der Taufe Jesu beschrieben wird, als er wie eine Taube über das Wasser des Jordan herabkam.
Alles, was ist, lebt von der Zuwendung Gottes.
Das ist die Botschaft dieses genialen Bildes.
Alles, was ist, lebt von der Zuwendung Gottes in Jesus Christus.
Gott wendet sich seiner Schöpfung auch durch seinen Sohn Jesus zu.
Deswegen läuft Jesus über das Wasser.
Deswegen stillt Jesus den Sturm.
Deswegen verwandelt Jesus Wasser in Wein.
Das sind keine abergläubischen Spinnereien, sondern das sind Zeichen dafür, dass Jesus und der Schöpfer eins sind.
Das sind Wunder, die zeigen, dass sich der Schöpfer nicht nur den Menschen zuwendet. Jesus heilt viele Menschen und spricht zu vielen Menschen, aber er wendet sich auch den Elementen der Natur zu.
Er hat auch Wind und Wellen etwas zu sagen, nicht nur Sündern und Frommen.
Gott wendet sich seiner Schöpfung zu.
Jesus wendet sich der Schöpfung zu.
Wir sehen es so schön auf dem Bild aus Assisi.
Das, liebe Gemeinde, ist der Grund für unsere Zuwendung zur Natur – und auch dafür, dass wir diesen Gottesdienst heute im Angesicht der Natur feiern.
Wenn das nicht so wäre, könnten wir auch in der Kirche sitzen, oder vor dem Fernseher oder schon im Auto auf dem Weg ans Meer.
Gottesdienst Feiern heißt, sich die Zuwendung Gottes bewusst machen.
Gottesdienst im Grünen Feiern heißt, sich bewusst machen, dass sich Gott nicht nur uns Menschen, sondern auch den anderen Geschöpfen zuwendet.
Das ist keine Spinnerei, das ist kein Ästhetizismus, das ist keine Öko-Religion. Das ist klares Umsetzen des Glaubens an Gott den Schöpfer.
Wenn das hier alles einen Sinn und einen Grund hat, dann ist es richtig und gut, dass wir uns diesen Grund bewusst machen.
Und wenn das alles auf gutem Grund steht, dann können wir uns auch daran freuen und beruhigt und dankbar sein.
Deshalb singen wir auch im Gottesdienst. Nicht, weil wir alle so gute Sänger sind oder Orgelmusik mögen, sondern weil wir Gott etwas dankbar zurückgeben wollen.
Und wenn es Zuwendung Gottes zu dieser Welt gibt, dann haben wir auch etwas zu sagen:
Gott lässt diese Welt nicht zugrunde gehen.
Gott hilft uns, wenn wir uns für den Erhalt der Schöpfung einsetzen.
Gott segnet alle Bemühungen um das Klima.
Wir sind nicht allein und keine Anstrengung ist sinnlos.
Diese positive Botschaft könnte unser christlicher Beitrag sein in der ökologischen Diskussion unserer Zeit.
Wir ringen hier nicht allein ums Überleben, oder kämpfen auf ohnehin verlorenem Posten, sondern wir rechnen mit einem Gott, der sich wohlwollend aus dem Fenster lehnt – in unsere Welt hinein – und mit diesem Planeten noch etwas vorhat.
Gottes Zuwendung ist der Grund für unsere Zuwendung.
Christen können nicht für sich selbst leben und in sich selbst aufgehen.
Wir sind zur Zuwendung geschaffen: zur Zuwendung zu anderen Menschen, aber auch zur Zuwendung zu allem, was geschaffen ist.
Ein Mensch, der nur für sich und in sich lebt in blankem Egoismus, ein Mensch, der die Welt um sich herum nur als Selbstbedienungsladen sieht, der kann sein, aber der kann nie Ebenbild Gottes sein.
Denn dieser Gott wendet sich zu. Er kann gar nicht anders.
Jesus lehnt sich aus seinem göttlichen Fenster weit in unser Leben hinein.
Nicht aus Neugier, nicht als Zaungast, nicht als Kontrolleur, sondern als Helfer und Begleiter. Er ist der Garant dafür, dass der Schöpfer seine Schöpfung nicht vergessen hat, und dass auch mein manchmal so erbärmliches Leben einen Sinn hat.
Und wenn wir von diesem ehrlichen Blick Gottes nur einen Bruchteil in unsere Wahrnehmung der Welt aufnehmen, dann sind wir wirklich Ebenbilder Gottes und die anderen Geschöpfe werden sich an uns freuen. Amen.