Lukas 4, 36-42
Liebe Gemeinde,
es ist Zeit für leichte Kost. Der Juli hat uns mit seiner Hitze im Griff. Das Leben muss angepasst werden. Die Schulen sind schon lang geschlossen.
Auch hier in der Kirche sind wir weniger. Viele haben die heiße Großstadt verlassen. Man muss irgendwie mit der Hitze umgehen.
Es ist Zeit für leichte Kost. Ich weiß nicht, wie es Ihnen und euch beim Essen geht. Ich will bei dieser Hitze keinen Teller dampfende Pasta essen oder eine heiße Pizza. Mir ist nach Kaltem, Leichtem, nach Gemüse und Obst.
Es ist Zeit für leichte Kost. Die Hitze fordert Anpassungen. Man muss einen Gang zurückschalten.
Auch für unseren Gottesdienst wäre es jetzt schön, wenn wir es sommerlich leichtes Thema hätten.
Aber unser Evangelium heute, das zugleich die Grundlage für die Predigt ist, ist keine leichte Kost.
Diese Worte Jesu haben es in sich. Hier finden sich gewichte Worte und schwerverdauliche Brocken:
Barmherzigkeit, Vergebung, Urteilen über andere, Verdammung, Kritik und Selbstkritik. Jesus mutet uns auch heute etwas zu.
Ich hätte Ihnen heute gerne eine sommerlich leichte Botschaft vorgesetzt, die uns ein bisschen erfrischt und erfreut; aber das Wort Gottes ist keine Begleiterscheinung unseres Lebens, sondern eine Botschaft, die uns trifft und herausfordert – auch mitten im Juli.
Wir müssen uns heute den Zusammenhang klarmachen von Ansprüchen an uns selber und Ansprüche an andere. Wir müssen uns heute fragen, wie wir umgehen mit den Fehlern anderer und den Fehlern, die wir selbst machen.
Da trifft uns die Anklage, Heuchler zu sein. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Und dann sollten wir am Ende dabei rauskommen, was unser Tagespruch sagt: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Das ist alles keine leichte Kost für den Juli in Rom.
Das sind alles keine Themen, die man so nebenher betrachtet, wie ein schönes Buch am Strand oder eine nette Unterhaltung bei einem eiskalten Getränk im Schatten.
Wenn nun also beim heutigen Thema tiefe Gedanken und damit wirkliche Arbeit gefragt ist, dann müssen wir es so machen, wie man es in Rom macht, wenn man im Juli gewissenhaft arbeiten muss.
Man schält die Klimaanlage ein und schafft so Raum für einigermaßen klare Gedanken.
Wo drinnen gearbeitet wird, da hilft uns oft die Klimaanlage, in Banken und Büros und zum Glück auch in Operationssälen. Hier hilft die Klimaanlage ganz großartig.
Die Klimaanlage wurde 1902 in New York erfunden, um eine Druckerei zu entfeuchten. Das Papier der Zeitungen wurde durch die hohe Luftfeuchtigkeit wellig. Da musste Abhilfe her. Und so entstand der erste Kühlapparat, von dessen Technik heute alle profitieren.
Aber es soll ja nicht um die Geschichte der Technik gehen. Es ist vielmehr so, dass die Vorstellung von der Klimaanlage uns helfen kann, die gehaltvollen Worte Jesu unter einen Hut zu bringen.
Ich will Ihnen zeigen warum:
Eine Klimaanlage kann ganz unterschiedlich eingestellt werden.
Wenn Sie eine Klimaanlage haben – zu Hause, im Büro, im Auto – welcher Typ sind Sie?
Sind Sie einer von denen, die sie ständig laufen lassen und dabei auf die maximale Kühlung gedreht haben?
Oder sind Sie eine von den sparsamen Personen, die zeitlich nur ganz kurz und dann mit gemäßigter Temperatur einschalten, um Energie zu sparen und die Umwelt damit nicht zu sehr zu belasten?
Sie die der Maximaltyp, in dessen Auto es gefühlte minus 10 Grad hat, oder sind Sie der gemäßigte Typ, der nur leicht herunterkühlt, um es einigermaßen erträglich zu machen.
Sie kennen alle die Supermärkte, in denen es beim Betreten eiskalt wird.
Sie kennen aber auch die Gefahren, sich durch die extremen Temperaturunterschiede auch im Hochsommer heftig zu erkälten.
Ich habe mir einmal auf Sizilien im Juli nach einer Zugfahrt im klimatisierten Zug von Catania nach Palermo heftige Halsschmerzen geholt.
Klimaanlagen machen es uns erträglicher. Sie erwärmen aber mit ihrer Abluft die direkte Umgebung und heizen die Stadt massiv auf. Und sie tragen mit ihrem Energieverbrauch zum fortschreitenden Klimawandel bei.
Ich möchte jetzt nicht Ihre persönlichen Gewohnheiten beurteilen – es hieß ja heute im Evangelium: Richtet nicht, damit auch ihr nicht gerichtet werdet. – aber ich möchte Ihnen einen Gedanken vor Augen führen.
Bei der Klimaanlage kommt es – wie bei so vielen Dingen – auf das richtige Maß an.
Und wie das rechte Maß im Glauben aussieht, das wollen wir uns heute klarmachen!
I
Das gibt es zunächst einmal das falsche Maß. Menschen handeln „vermessen“. Menschen können „maßlos“ handeln.
Das betrifft manchmal den Konsum. Das kann den Gebrauch der Klimaanlage betreffen, wenn diese ständig läuft.
Das kann aber auch die Worte betreffen, die wir an andere richten. Auch hier können Menschen jedes Maß verlieren. Worte können vermessen und damit unangebracht sein. Kritik kann zu scharf formuliert sein. Auch Lob kann so übertrieben ausgesprochen werden, dass man es nicht mehr ernstnehmen kann.
Das richtige Maß ist nicht nur Ergebnis einer guten Erziehung. Das Maß unserer Worte ist immer Spiegel unserer Selbsteinschätzung.
Das Problem maßloser Worte ist ja nicht nur die Frechheit, sondern die überhebliche Überlegenheit, die damit verbunden ist.
Sind wir überhaupt in der Lage, über andere zu urteilen? Sind wir in der Position, andere auf ihre Fehler hinzuweisen?
Es gibt wohl kein Wort der Literaturgeschichte, das diese Frage treffender stellt als das, das wir von Jesus hören:
„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“
Bevor du maßlos urteilst oder sprichst, lege das Maß an dich selbst an!
Könntest du vor den Ansprüchen bestehen, die du an andere anlegst?
Bist du makellos, unkritisierbar, fehlerfrei?
Oder ruft uns Jesu entlarvendes Wort nicht zu größter Bescheidenheit und Selbstkritik auf? Wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, sagt Paulus (Röm 3,23).
Christliche Rede von der Sünde ist kein pathologisches Spielchen böser Theologen, um Menschen klein zu halten.
Christliche Rede von der Sünde kann Menschen bescheiden machen: Vergiss nicht, dass du auch deine Fehler hast. Vergiss nicht, dass wir alle mit unseren Grenzen und Schwächen zu kämpfen haben!
Christliches Bewusstsein der eigenen Fehler kann uns davor bewahren, uns moralisch über andere zu erheben.
Ja, christliches Bewusstsein unserer eigenen Fehler kann uns helfen, das rechte Maß zu finden, wenn wir an anderen Kritik üben.
Wenn wir in jedem Gottesdienst vor dem Hl. Abendmahl unsere Sünden bekennen, dann ist das keine altmodische Bußübung. Dann kommen wir nicht nur mit Gott ins Reine, sondern werden uns auch bewusst: Jede und jeder von uns hat seine Fehler. Da ist keiner, der sich einfach über den anderen erheben könnte. Maßlosigkeit ausgeschlossen!
II
Wenn wir selbstkritisch und bescheiden sind, dann scheinen wir dem rechten Maß näherzukommen. Und damit sind wir beim zweiten Punkt: Das richtige Maß. Es ist schon viel damit gewonnen, wenn wir an alle – auch an uns selbst – das gleiche Maß anlegen. Wir können nicht bei uns selbst großzügig sein und bei anderen kritisch. Wir können nicht, um im Bild zu bleiben, unsere Klimaanlage laufen lassen, und uns beschweren, dass sie beim Nachbar die ganze Nacht läuft und uns stört. Alle Menschen müssen den selben Maßstäben entsprechen. Allen Bürgern eines demokratischen Staates kommen die gleichen Rechte und Pflichten zu.
Gleiches Recht für alle. Gleiches Maß für alle. Wenn das überall umgesetzt würde, wäre es wunderbar.
Es wäre schon ausgesprochen maßvoll, wenn wir alle mit demselben Maß messen würden.
„Wie du mir, so ich dir.“ Das ist das menschliche Definition des rechten Maßes im Umgang miteinander.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,23): Das ist die berüchtigte alttestamentliche Definition des rechten Maßes beim Strafvollzug.
Sie geht aus vom gleichen Maß. Wenn du mir ein Auge ausstichst, dann kann ich dir ein Auge ausstechen. Wenn du mir einen Zahn ausschlägst, dann kann ich dir einen Zahn ausschlagen. Aber auch nicht mehr als einen Zahn: Vergeltung kann auch maßlos sein. Es liegt schon viel Begrenzung in diesem alten Gebot.
Dennoch gilt es heute als Symbol für eine harte, unbarmherzige Form von Vergeltung.
Und das vielleicht deshalb, weil wir ahnen, dass die bloße Erstattung kein perfektes Heilmittel ist, weil wir spüren, dass das kalte Ansetzen des gleichen Maßes nicht in jedem Fall passend ist.
Kann eine schwangere Frau das gleiche Maß medizinischer Versorgung bekommen wie eine nicht schwangere?
Kann dem gehbehinderte Mann der gleiche Weg zugemutet werden wie dem gesunden?
Ist das exakt gleiche Maß immer an alle anzulegen?
„Wie du mir, so ich dir.“ Das ist menschlich gedacht. Aber eben auch nur menschlich – in all seiner Begrenzung.
III
Wir müssen am Ende auf Gottes Maß schauen.
Und dieses Maß ist gegen alle menschliche Moral überaus maßlos!
„Gott wird euch geben ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß (Luk 6,38).“
Gott schenkt maßlos viel. Gott misst nicht einfach mathematisch genau ab, sondern er gibt – im Bild des Bauern – so viel Korn, dass der Messbecher, der gefüllt und gedrückt und geschüttelt wurde, schließlich noch überläuft.
Das ist kein gleiches Maß. Das ist überfließendes Maß.
Gott gibt nicht nach Rechnung. Gott teilt nicht zu nach Statistiken.
Gott gibt uns nach unserer abgrundtiefen Bedürftigkeit.
Gottes Gnade misst sich nicht an unserem Anrecht, sondern an unserer bodenlosen Verlorenheit.
Mir kommt nicht der Bruchteil der Liebe Gottes zu, die er exakt durch 8 Milliarden Menschen geteilt hat, sondern all die Liebe, die nötig ist, um mir aus der Verlorenheit hochzuziehen in seine Nähe.
Gottes Gnade misst sich nicht an Zahlen, sondern am Bedürfnis seiner Kinder.
Und jeder einzelne Sünder braucht unendlich viel Gnade.
Bei Gottes Gnade müssen wir aufhören zu rechnen! (Das hat uns Martin Luthers Reformation mit seiner Kritik am Ablass gelehrt.)
Wir haben es mit einem maßlosen Gott zu tun! Das dürfen wir niemals vergessen. Wenn wir Gott nach menschlicher Moral und menschlichen Berechnungen konstruieren, dann finden wir einen Gott der Philosophen, aber niemals den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. So hat das Blaise Pascal einmal gesagt.
Und der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zeichnet sich von Anfang an auch durch die Maßlosigkeit seines Erbarmens. Keiner dieser drei Männer hätte Gottes Gnade verdient. Keiner von ihnen war ohne gewaltige Fehler. Die Bibel verschweigt das nicht. Und für die ganze Bibel ist klar: Gottes Erbarmen ist maßlos, aber begrenzt und gemessen ist sein Zorn.
Gott geht seinen Weg mit jedem von ihnen in seiner maßlosen, überfließenden, analogielosen Liebe.
Und das tut er auch mit uns.
Jesu Zuwendung zu uns verlorenen Menschen ist so groß, dass man sie gar nicht ermessen kann. Wenn Menschen immer wieder sagen: „Ich kann das mit dem Sterben Jesu am Kreuz nicht verstehen.“: Wie sollte man das auch ermessen können, diese unverdiente, diese nicht erwartbare, diese maßlose Liebe? Vielleicht erahnt es am ehesten eine Mutter, die ihr Kind, auch wenn es ihr alle Böse der Welt angetan hat, immer noch in die Arme schließt.
Gottes Güte ist nicht nur vorhanden. Gottes Güte ist maßlos.
Und von dieser Maßlosigkeit Gottes leben wir Christen.
Von dieser Maßlosigkeit sollten wir uns leiten lassen. Von dieser Maßlosigkeit sollte man uns etwas abspüren.
Nicht weil, weil die Klimaanlage ständig laufen lassen, nicht weil wir mit dem Geld um uns werfen, nicht weil wir uns gehen lassen.
Das wäre menschliche Maßlosigkeit!
Es geht um göttliche Maßlosigkeit!
Und die lässt uns dankbar staunen über seine Liebe. Die lässt uns ganz klein werden angesichts der Größe der Schöpfung. Die lässt uns bescheiden werden, weil wir wissen, was Gott uns schon alles vergeben hat. Die lässt uns gnädig werden mit unseren Mitmenschen und gütig gegenüber den Kreaturen.
Maßvoll leben innerhalb der Maßlosigkeit Gottes.
So könnte man das Christsein definieren.
Entlastet, weil unsere Maßstäbe nicht die letzten sind, mit denen wir gemessen werden.
Entspannt mit den anderen, weil auch sie von Gott gemessen werden.
Froh und optimistisch, weil Gottes Möglichkeiten mit dieser Welt kein Maß kennen.
Dieses rechte Maß finden wir nur innerhalb der Maßlosigkeit Gottes. Amen.