Das historische Chorbuch der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom

Als besonders seltenes Dokument der Gemeindegeschichte wurde 2020 dank des Kirchenvorstands das historische Chorbuch der Gemeinde von einer Gruppe Restauratoren und Restauratorinnen der Bibliotheca Hertziana wieder hergerichtet. Wir danken Lorenzo Civiero, Federica Delia, Cecilia Hausmann, Cecilia Peretti und Ilaria Vezzosi für die aufwendigen und mit Herzblut durchgeführten Arbeiten an diesem frühen Zeugnis des musikalischen Wirkens der evangelischen Gemeinde in Rom.

 

Das Chorbuch wurde in der preußischen Gesandtschaftskapelle im Palazzo Caffarelli verwendet. Sie war von Christian Karl Josias von Bunsen (1791-1860), der zu dieser Zeit den Posten des königlich-preußischen Gesandten zunächst nur vertrat, ab 1823 eingerichtet und dann von einer – auch durch sein Wirken – bereits äußerst lebendigen Gemeinde genutzt worden.

„Die höchst einfache Gesandtschaftskapelle in einem Parterrelocal des Palazzo Caffarelli war früher, wie ihr Urbild in Betlehem, ein Stall gewesen. Vier weiße Wände, ein Altartuch mit Cruzifix und zwei Leuchtern, einige Reihen Stühle, sammt der kleinen Hausorgel in einer Ecke bildeten das prosaische Interieur.“ (Ludwig Richter)

Wie das Titelblatt des Chorbuchs verrät, ist es in den Jahren 1823/1824 enstanden. Es handelt sich um einen großformatigen in Leder eingeschlagenen Band von 194 kalligraphisch gestalteten Seiten mit Goldschnitt. Als „Kirchen=Ordnung“ enthält das Chorbuch eine „Liturgie für den Chor“, in welcher der Prediger einen großen Sprechanteil hat, worauf der Chor jeweils mit einem kurzen Gesang antwortet. Der größte Teil (S. 29-180) des eleganten Bandes enthält Lieder, vorwiegend aus dem 16. und 17. Jahrhundert, dazu angehängte „Melodien=Register“. Ein Anhang von Gebeten zu bestimmten Anlässen – darunter auch „[a]n väterländischen Festen“ mit einem zugehörigen Register bildet die letzten Seiten des Chorbuchs. Die Urheber des Chorbuches bleiben leider unerwähnt.

 

Der Sängerchor, der das Chorbuch gebrauchte, spielte seinerzeit im Gottesdienst eine große Rolle – zunächst wohl vor allem ohne Teilnahme der Gemeinde, später vermutlich auch, um den Gemeindegesang zu leiten –, wie der Maler Ludwig Richter schilderte:

„Ein Sängerchor, größtentheils aus Künstlern bestehend, hatte sich um die Orgel gruppiert, wo Schnorr quasi als Cantor an der Spitze […] [stand].“

Der Leipziger Maler Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) war nicht nur Kantor bzw. Vorsänger, sondern mitunter auch Orgelspieler und Balgenzieher. Der in diesen Jahren Italien bereisende Musiker Karl Gottlieb Freudenberg (1797-1869), der während seiner Zeit in Rom gelegentlich das „Orgelchen“ gespielt hatte, erwähnte lobend Schnorr von Carolsfelds „sonore Stimme“ und ergänzte:

„Schnorr, später einer der ersten Kunstgrößen in Dresden, war nicht von Oben herab verbriefter und gestempelter Cantor, sondern, was er that, geschah nur zur Ehre Gottes, nicht um der Menschen Willen.“

Schnorr wurde als Vorsänger von einem weiteren Künstler unterstützt, nämlich dem 1825/ 1826 in Rom seine Studien vertiefenden Dresdener Maler Wilhelm von Kügelgen (1802-1867), der in Briefen in die Heimat einen Eindruck davon gab, welche Aufgabe der Sängerchor hatte:

„Ich sang wie ein Löwe, da Schnorr gar nicht imstande ist, diesen konfusen Gemeindegesang zu halten, in dem die meisten auch nicht soviel Begriffe vom Singen haben, als ein Lausaer Bauernjunge.“

Dass die Stärkung des Gemeindegesangs und überhaupt die aktivere Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst dem seit Januar 1824 amtierenden Gesandtschaftsprediger Richard Rothe (1799-1867) am Herzen lag, drückte sich darin aus, dass er schon kurz nach seiner Ankunft in Rom das von seinem Amtsvorgänger Heinrich Schmieder (1794-1893) eingeführte Wittenberger Gesangbuch handschriftlich um Lieder und liturgische Stücke erweiterte.

 

Zur Ermöglichung von Kirchenmusik hatte die Gemeinde bereits von Anfang an eine Orgel gemietet. 1821 war dann ein Orgelpositiv erworben worden, das auf Anstoß des 1820/1821 in Rom weilenden preußischen Ministers Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757-1831) aus freiwilligen Beiträgen der Gemeinde angeschafft werden konnte. Organist war der Hofmeister des Fürsten Galitzin, M. Steudlin († 1827) aus Kaufbeuren, der den Ankauf der Orgel aus Augsburg vermittelt hatte. Auch diese Orgel war aber offenbar unzureichend, weshalb der Musiker Freudenberg Bunsens Angebot, Gesandtschaftsorganist zu werden, rundweg ablehnte.

„[Es war] eine verführerische Frage, aber die verneinde Antwort legte mir das Positiv ohne Pedal auf die Zunge.“

Das war umso bedauerlicher, als Freudenbergs Fähigkeiten und seine Wirkung nicht nur von Bunsen, sondern auch von anderen, wie Ludwig Richter, bemerkt worden waren:

„Eine auffallende Figur war der übrigens sehr tüchtige Orgelspieler, Namens Freudenberg. Lang und mager, mit einem höchst humoristischen Gesicht, zeichnete er sich durch seinen zeisiggrünen, langschößigen Frack, etwas zu kurz geratene Nankinghosen und ein paar Schuhe aus, welche einen Wettlauf nach Syrakus mit den Seume´schen Rappen gar siegreich würden bestanden haben.“

1824 kam es dann zu einer neuerlichen Geldsammlung für die Anschaffung einer anderen Orgel, wozu der preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) eine Spende gab.

 

Neben Schnorr von Carolsfeld und Kügelgen gehörten dem Sängerchor, dem der Gebrauch des Chorbuchs vorbehalten gewesen sein dürfte, eine Reihe weiterer, teils namhafter Künstler an. So etwa der Holsteiner Maler Theodor Rehbenitz (1791-1861) und der Dessauer Maler Friedrich von Olivier (1791-1859), die zusammen mit Schnorr von Carolsfeld ab November 1819 sogar bei Bunsen im Palazzo Caffarelli untergebracht waren und diesem entsprechend nahe standen. Auch der Frankfurter Maler und Kunstschriftsteller Johann David Passavant (1787-1861) und andere Künstler mehr sangen im Chor.

Die Rückkehr mehrerer Künstler nach Deutschland nach Beendigung ihrer italienischen Studienjahre führte zur vorübergehenden Einstellung des Chores im Jahr 1825.

 

In der Entstehungszeit des Chorbuchs galt die königlich-preußische Liturgie, die sog. preußische Agende oder Berliner Liturgie, die am 21. November 1822 auf persönlichen Wunsch von König Friedrich Wilhelm III. während dessen Besuch in Rom eingeführt worden war. Bis dahin hatte eine Liturgie Geltung gehabt, die von großer Schlichheit war. Die Gesänge nach der königlich-preußischen Liturgie übte der Chor sogleich 1822 unter Anleitung des musikalisch begabten königlich-preußischen Adjutanten Job von Witzleben (1783-1837) ein. Die neue Liturgie erfreute sich allerdings keiner großen Beliebtheit. Die Malerin Louise Seidler (1786-1866), die ihre Studien zwischen 1818 und 1823 in Italien, und vorwiegend in den Künstlerkreisen Roms, vertiefte, berichtete, dass diese Liturgie gegen den Wunsch des 1822 noch amtierenden preußischen Gesandten Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) eingeführt worden war, und ergänzte:

„[…] das Neue, Ungewöhnliche derselben, das viele Stehen gleich zu Anfang des Gottesdienstes übte keinen günstigen Einfluß auf die Stimmung und störte die Andacht. Da die meisten Deutschen auf dem Monte Pincio wohnten, so hatten sie einen weiten Weg nach der Kirche, von der Hitze ermüdet, kamen sie dort an; das Stehen wurde ihnen dann doppelt beschwerlich, Leidenden und Schwachen oft dadurch der Gottesdienst verleidet.“

Der Gesandtschaftsprediger Rothe unterstrich anlässlich der Überlegungen zur Wiederabschaffung der königlich-preußischen Liturgie das kritische Urteil der Malerin Seidel mit wesentlich harscheren Worten:

„Gottlob!, daß wir die bisherige Liturgie aufgeben müssen! Ich habe mein liturgisches Gefühl ehrlich an ihr zermartert.“ […] „Sie ist in sich selbst eine völlige Totgeburt; nichts als ein Aggregat allerlei liturgischer Stoffe ohne alle individuelle Einheit und allen lebendigen Organismus; sie wird in der Geschichte als ein Zeugnis der liturgischen Unwissenheit und des Mangels an liturgischen Begriffen stehen bleiben und dazu dienen müssen, das liturgische Bedürfnis der Gemeinde zu wecken.“

 

Die königlich-preußische Liturgie konnte nach der Einstellung des Sängerchors im Laufe des Jahres 1825 nicht weitergeführt werden, da der Chor grundlegender Bestandteil der Liturgie gewesen war. Bunsens längst gehegtem Wunsch, eine neue Liturgie einzuführen, kam das entgegen. Er setzte sich für eine aktivere Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst, insbesondere am Gesang, ein. Die neue sog. kapitolinische Liturgie, die er entwarf, wurde 1828 endgültig eingeführt.

 

Künstlerische, musikalische, literarische und religiöse Aktivität gingen in der Gemeinde Hand in Hand, deren Mitglieder sich über die Zusammenkünfte der Gemeinde hinaus ebenso in anderen Bereichen sowohl ihres beruflichen Wirkens, als auch zu privaten Gelegenheiten begegneten, etwa in der Bibliothek der Deutschen, die 1821 auf Initiative Passavants gegründet worden war. Der rege Austausch mit den evangelischen Predigern hatte speziellen Einfluß auf das künstlerische Wirken der Gemeindemitglieder. Als hervorragendes Beispiel dafür ist Julius Schnorr von Carolsfelds Bibel in Bildern zu nennen, auf die insbesondere Rothe Wirkung gehabt hatte. Es erscheint denkbar, dass die Künstler, die im Chor sangen, unter Anleitung von Bunsen und Rothe an der Gestaltung des Chorbuchs mitwirkten, um ein die preußische Agende ergänzendes Liedgut in den Gottesdienst einzubringen, noch ehe diese von der Bunsenschen Liturgie ersetzt wurde.

„Auch die Gesänge für die sonntägliche Andacht wurden mit den Vorsängern und dem Prediger im Bunsen´schen Hause eingeübt. Dadurch hatte Bunsen die Freude, seine Liturgie bald in Gebrauch zu sehen und doch unter Frances‘ [Bunsens Frau] Beistand an den flüssigen Formen noch weiter bessern und bilden zu können.“ (Hausrath: Rothe)

Möglicherweise war das Chorbuch ein Bindeglied zwischen der Liturgie von 1822 und der von 1828, das die im Gottesdienst schon vor ihrer offiziellen Einführung praktizierte Liturgie Bunsens im und durch den Alltag des religiösen Lebens vorbereitete. Möglich ist auch, dass das Chorbuch ein Teil von Bunsens Vorarbeiten zu einem neuen Gesangbuch war. Die genauere Klärung allerdings muss einer theologischen oder musikwissenschaftlichen Untersuchung überlassen bleiben. Sicher ist, dass das Chorbuch das gottesdienstliche Leben der Gemeinde bereicherte; die Wirkung des gesungenen Gotteslobes war um 1800 für Wilhelm von Kügelgen schon ebenso erhebend wie für viele evangelische Christen in Rom noch heute:

 

„Wie soll ich Gott genugsam danken, daß ich mich so wohl befinde und daß ich so heiter bin! Aber wahrlich, hätte ich diese christlichen Männer [und Frauen] hier nicht gefunden, so würde das Heimweh mich erdrücken! […] [W]ir kamen mit einem Freudigkeitsgefühl aus der Kirche, das unbeschreiblich war, und gingen in einer Kolonne Arm in Arm den Kapitolsberg hinunter so freudig und munter, als sollten wir gerade in den Toren des himmlischen Jerusalem einziehen.“

Dr. Gabi Pahnke

 

Literatur- und Quellenverzeichnis

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Restaurierung des „Chorbuches“ von 1823