Liebe Brüder und Schwestern!

Wer sind wir? Wir präsentieren uns heute Abend hier als verschiedene christliche Kirchen und Gemeinden. Wir können die Vielfalt der christlichen Traditionen sehen, und es ist schön, dass wir uns gegenseitig wahrnehmen. Das allein ist schon ein Gewinn dieser Vesper und der traditionellen Woche des Gebets für die Einheit der Christen. Ich bin dankbar dafür, dabei zu sein.

Wir sehen, wer die anderen sind; wir sehen die Unterschiede; und wir begreifen dadurch auch tiefer, wer wir selbst sind.

Wer sind wir? Ich möchte diese Frage heute aber im Blick auf unser Evangelium stellen. Ich möchte diese Frage stellen im Blick auf Jesu Gleichnis vom Barmherzigen Samariter und uns fragen: Wer sind wir in dieser Geschichte? Mit wem identifizieren wir uns?

 

Und jetzt sagt nicht sofort, wie wir das in unseren frommen Kreisen immer automatisch denken: Wir sind der Samariter! Wir sind der, der Gutes tut, der Liebe übt, der barmherzig ist! Natürlich wollen wir der gute Samariter sein; natürlich drängt uns das Gleichnis dahin; natürlich sollen wir Liebe üben; aber so einfach ist das Gleichnis nicht, so schnell entlässt uns der Herr nicht aus seiner Lektion.

 

I Der Gesetzeslehrer

Wer sind wir? Wir sind doch der, der am Anfang unseres Evangeliums seine Frage stellt. Wir sind doch ganz ähnlich dem Gesetzeslehrer, der aufsteht und Jesus fragt: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erbe?“ „Meister, wer ist mein Nächster?“

Der Gesetzeslehre kennt seine heilige Schrift. Der Gesetzeslehrer weiß, doch, was bei dem einen Gott Israels zählt.

Wir sind doch auch die, welche die Gebote Gottes kennen. Wir doch auch solche, die nicht überrascht sind, wenn wir heute wieder zum tausendsten Mal hören:

“Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst“.

Wir kennen das, und wir wissen das – die meisten von uns seit der Katechese ihrer Kindheit.

Das Motto dieser Gebetswoche ist nicht neu. Die Antwort des Gesetzeslehrers ist nicht neu. Das Konzept der Nächstenliebe ist nicht neu. Selbst die meisten Menschen in unseren säkularisierten Zeiten wissen, dass das zum Christentum gehört.

“Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst“.

Wir kennen das, und wir wissen das – vielleicht schon viel zu lange. Wir sind müde geworden. Es ist wie in einer alten Ehe. Man kennt sich, aber die Leidenschaft ist verschwunden.

“Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst“.

Seht ihr, liebe Freunde, das Problem ist nicht das Wissen; das Problem ist die Motivation, die Überzeugung, das Handeln!

Deshalb ist dieser Dialog zwischen Jesus und dem Pharisäer kein zynisches Spiel, sondern ein wichtiges Beispiel für uns, gerade für uns als Gesetzeslehrer unserer Kirchen:

Wir brauchen den dauernden Dialog mit Jesus. Wir müssen ihn täglich fragen: Was sollen wir tun?

Das alte Wissen reicht nicht. Katechese und Studium sind wichtig, aber sie sind nicht genug. Wir brauchen den täglichen Dialog mit Jesus.

Er muss uns immer wieder das Wort Gottes erschließen. Er muss immer wieder das Feuer in unserem Herzen entflammen. Er muss uns immer wieder Kraft geben – gerade uns, die wir unsere verschiedenen Kirchen repräsentieren.

Wenn die Repräsentation unserer verschiedenen Traditionen hier kein Museum der Religion sein soll, sondern ein lebendiges Zeugnis, dann brauchen wir alle den konstanten Dialog mit dem Herrn.

Und jener kühle, verdächtige Pharisäer wird uns zum Vorbild: Wir sollen fragen. Wir dürfen Jesus alles fragen – auch das, was wir theoretisch schon wissen. Er gibt uns Antwort. Er gibt uns Antworten, die unser Herz berühren. Ihr könnt euch vorstellen, wie dieses Gleichnis jenen Pharisäer damals bewegt hat. Er wird es nie mehr vergessen haben.

Jesu Antworten sagen nicht „richtig“ oder „falsch“; Jesu Antworten sind keine moralische Lehre, nein, Jesu Antworten sind, wie das Evangelium nach Johannes (6,68) sagt, Worte des ewigen Lebens. Sie führen uns in eine neue Realität.

In einer Zeit, in der sich viele von der Kirche abwenden, weil die Herausforderungen zu kompliziert erscheinen, fragt uns der Herr selbst: „Wollt ihr auch weggehen?“ Und wir sollten wie Petrus antworten: „Herr, wohin sollen wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“

Ein Christ, der aufhört, Antworten bei Jesus zu suchen, ist kein Christ mehr. Er wird früher oder später geistlich verdursten.

Stellen wir unsere Fragen, wie immer sie auch aussehen, so wie dieser anonyme Gesetzeslehrer am Anfang unseres Evangeliums!

 

II Der Priester

Wer sind wir? In unserem Gleichnis erscheinen ein Priester und ein Levit. Sie gehen am Verwundeten vorbei. Damit werden sie zu den bad guys unserer Geschichte. Wir alle sind schockiert, wenn wir lesen, dass sie an dem halb Toten einfach vorbeigingen.

So wollen wir nicht sein! Auch wenn viele unter uns heute Priester sind, mit diesen Klerikern wollen wir uns auf keinen Fall identifizieren.

Aber auch in diesem Fall sollten wir mit einer vorschnellen Verurteilung vorsichtig sein.

Dieser Priester tat seine Pflicht. Er tat das, was notwendig war und was seine Regelungen sagten.

Er musste stets pünktlich im Tempel sein. Hätte er geholfen, wäre er zu spät gekommen. Er musste seinen heiligen Dienst tun. Hätte er geholfen, hätte er sich verunreinigt.

Der Priester ist kein Bild eines bösen, grausamen Menschen. Der Priester ist ein Bild für uns moderne Bürger mit allen unseren Verantwortlichkeiten und Pflichten, mit allen unseren Sorgen und Ideen.

Wir können manchmal so gut und so moralisch sein, dass wir uns in unseren Regeln verlieren und den Menschen übersehen, der neben uns am Boden liegt. Auch unsere aktuellen Idealismen und Engagements können zu einer Ideologie werden, in der wir gefangen und letztlich blind werden. Modern sein bedeutet nicht automatisch offen Sein. Alten Traditionen treu bleiben heißt nicht automatisch kalt und unbarmherzig Sein.

Dieser Priester im Gleichnis ist keine abschreckende Figur oder die Karikatur des Klerus an sich, sondern eine Warnung an uns:

Pass auf, dass du dich in allen deinen Pflichten und Ideen nicht verlierst!

Bleibe immer so frei, dass du siehst, was rechts und links von dir passiert!

Und das möge auch uns heute in unseren ökumenischen Kontakten gesagt sein:

Wir sollen immer so offen bleiben, dass wir immer sehen, was rechts und links von unserer eigenen Konfession oder Kirche passiert.

Wir sind alle in unserem heiligen Dienst auf dem Weg nach Jerusalem. Aber rechts und links von uns gehen auch andere!

 

III Der Verwundete

Wer sind wir? Da ist im Gleichnis schließlich noch der namenlose Verwundete und Ausgeraubte. Er geriet an die Räuber und ist verwundet liegen geblieben. Er löst unser Mitgefühl aus; aber identifizieren wir uns mit ihm?

Wir wollen im ökumenischen Dialog unsere starken Seiten darstellen. Wir wollen bei ökumenischen Treffen bella figura machen. Wir wollen bei den Statistiken zeigen, dass sich unsere Kirche gut entwickelt.

Und dann verweisen wir auf die Stärken unserer Traditionen: Unsere tiefe Theologie, unsere ästhetische Form der Liturgie, unsere kulturelle Wirkung, unsere sozialen Projekte. Und ich möchte niemanden diese Stärken absprechen! Alle Kirchen und Traditionen, die hier anwesend sind, haben ihre besonderen Charismen und Stärken.

Aber wir könnten auch unsere Wunden zeigen – auch und gerade vor den anderen Christen!

Es soll niemand sagen, dass seine Kirche nicht auch krank sei. Die Kirche in der Welt ist angegriffen von vielen verschiedenen Räubern. Sie ist vielfach verwundet und oft kann sie nur noch hinken. Dann gibt es noch die Angriffe von innen, die uns lähmen und verletzen: Streit und Spannungen, Trägheit und Müdigkeit.

Auch unsere Straße von Jerusalem nach Jericho ist voller Steine und Gefahren. Und wir fallen immer wieder.

 

Wie sollten uns andere zur Hilfe eilen, wenn sie gar nicht wissen, dass wir gefallen sind, dass wir geschwächt sind, wo unsere Institutionen verwundet sind durch die Angriffe der laizistischen Welt, wo unsere geistlichen Ressourcen ausgeraubt wurden?

Vielleicht können wir uns auch gegenseitig unsere Wunden heilen mit unseren unterschiedlichen kulturellen und historischen Erfahrungen, mit den Schwerpunkten unserer Lehre, mit der Tiefe unserer Frömmigkeit.

Nichts hat die Christenheit in der Geschichte mehr wachsen lassen als die Verfolgung. Und nichts hat verschiedene christliche Kirchen mehr zusammengeschweißt als das Martyrium. Das kann ich euch im Blick auf die deutsche Geschichte versichern. Da saßen Priester und Pastoren gemeinsam in den Konzentrationslagern.

Verschweigen wir das Leiden unserer Kirche nicht!

Verbergen wir unsere Wunden nicht voreinander, sondern verbinden wir sie uns gegenseitig!

Wie gut würden uns das Öl und der Wein der anderen tun, wenn er in unsere Wunden, in unsere Schwächen hineingegossen wird. Wir können uns nicht selbst heilen – auch als Kirchen nicht. Der Herr muss seine heilenden Kräfte an uns wirken lassen – und er tut es auch durch die Worte und Taten anderer Christen an uns. Das ist dann genauso unerwartet und überraschend wie die Hilfe in unserem Gleichnis, die von dem kommt, von dem man sie gar nicht erwartet hätte: dem Fremden, dem Samariter.

Auch wenn wir alle hoffentlich aufrecht und gesund in dieses neue Jahr gehen – wir sind dem Verwundeten im Gleichnis näher als wir denken.

 

Ihr Lieben, am Ende habe ich uns nun gar nicht mit dem guten Samariter identifiziert!

Das habe ich aus diplomatischen Gründen nicht getan. Denn wen hätte ich denn identifizieren sollen: Die eine oder die andere Konfession, die eine oder die andere Kirche hier in Rom, euch alle hier und auch mich selbst?

Ich habe das auch aus theologischen Gründen nicht getan. Denn das ist gar nicht meine Aufgabe, den einen oder den anderen mit dem guten Samariter zu identifizieren!

Denn diese Identifikation geschieht auch nicht in einer Predigt oder in unserer persönlichen Reflexion, sondern sie geschieht da draußen, im Leben, in eurem Alltag, auf der Straße. Sie geschieht, wenn wir Menschen begegnen und auf ihre Not reagieren.

Diese Identifikation, die machen ja überhaupt nicht wir, sondern die machen ganz andere:

Schenke uns der Herr, dass andere Menschen einmal über uns sagen: Sie ist meine Nächste; er ist mein Nächster geworden. Amen.

Predigt zur Einheitswoche 2024 (Ökum. Vesper der Diözese Rom) – Pfr. Dr. Jonas